„Niedlich & sexy“

Der Industrialpionier und Provokateur Boyd Rice im Gespräch mit Alexander Nym

Gespräch geführt Ende 2012 in der Reithalle Dresden

 

AN: Du hast im Lauf Deiner Karriere extrem unterschiedliche Themen durchgearbeitet, von Mondo-Trashfilmen über Tiki-Kultur und Deine kurze Freundschaft mit Charles Manson bis hin zu kontroversen Dingen wie der Church of Satan oder Deinen provokanten Äußerungen zu Misanthropie und Sozialdarwinismus. Was ist der momentane Gegenstand Deiner Leidenschaft?

BR: Ein englischer Verlag bereitet derzeit einen Katalog als Retrospektive vor, der hauptsächlich meine photographischen und malerischen Arbeiten versammeln wird. Neben der Arbeit an „Back to Mono“ und den damit verbundenen Auftritten [in 2013, d.V.] hat mich dieses Projekt stark beschäftigt und wird das auch weiterhin tun; die Arbeit ist mühselig und langwierig und der Verlag hat die Veröffentlichung schon ein paarmal verschoben, weil mich diese anderen Projekte auf Trab gehalten haben. Aber zum Glück meinen die es ernst und geben mir alle Zeit der Welt. Deswegen kann ich aber auch nicht sagen, wann er veröffentlicht werden wird.

AN: Also wird es ein visuelles Werk werden – sind die Bilder darin schon irgendwo anders zu sehen gewesen?

BR: Der Katalog wird bislang unveröffentlichtes Material enthalten, das zuvor bei Ausstellungen in San Diego, San Francisco und anderswo gezeigt worden ist. Das sind sowohl Bilder, die ich selbst fotografiert oder gemalt habe, wie auch gefundene Fotos, die mir zufällig über den Weg gelaufen sind. Aber weil ich in technischen Dingen völlig unfähig bin, hat meine Frau das Einscannen und so weiter übernommen – worüber ich sehr froh bin! Wie gesagt, der Verlag ist zum Glück sehr geduldig, denn es kann noch eine Weile dauern, bis ich das Material beisammen habe und es komplett digitalisiert ist.

AN: Sozusagen eine Rückkehr in den Galerie-Kontext?

BR: Das Interessante an der Kunst ist ja, dass die meisten der sogenannten Industrial-Künstler mit bildender Kunst angefangen haben. Damals in den 70ern lernte ich einen Großteil davon durch ihre künstlerische Arbeit kennen, lange bevor sie anfingen, Musik zu machen: Genesis P-Orridge, Z'ev, Richard H. Kirk von Cabaret Voltaire … die wurden mir alle durch ihre Kunst bekannt; die Musik folgte dann später.

AN: Ja, es gab damals – in der prä-digitalen Ära – die sogenannte Mail-Art, wo man sich zum Teil recht bizarre Kunstwerke mit der Post zugeschickt hat. Ich glaube, so bist Du auch mit Monte Cazazza in Kontakt gekommen … ?

BR: Monte habe ich bei meiner Performance im ICA (Institute for Contemporary Art) kennen gelernt. Er hat mich dann in der Folge mit Genesis P-Orridges Arbeiten bekannt gemacht und vorgeschlagen, wir sollten Verbindung aufnehmen.

AN: Bei der Lektüre Deiner Texte in „Standing in two circles“ hab ich mich köstlich amüsiert. Und den Eindruck bekommen, dass Du Dich in die Themen, die Dich beschäftigen, vorbehaltlos einbringst und bis zu einem unglaublich hohen Grad mit ihnen identifizierst, bis Du sie, um es mit Heinlein zu sagen, vollständig „gegrokt“ hast. Wenn dann ein gewisser Punkt überschritten ist, betrachtest Du diese Dinge aus einer gewissen Distanz, die Dir ermöglicht, sie auf derart satirische Weise darzustellen – wo genau liegt dieser Punkt?

BR: Das ist eine gute Zusammenfassung! Aber ich habe diese Motivation eigentlich kaum; es ergibt sich einfach so. Ich folge meinen Interessen oder lasse mich von ihnen anziehen und bin neugierig, wohin mich das führt. Manchmal finde ich mich dann an interessanten Punkten oder Orten wieder, manchmal auch an gefährlichen. Je näher man etwas kommt, desto mehr versteht man es, und das ermöglicht Distanzierung. Ich könnte aber nicht sagen, dass es einen bestimmten Punkt gibt, wo es umschlägt. Es ergibt sich einfach so.

AN: Das ist ja letztlich die psychosoziale Funktion von Grenzgängern, Künstlern, Schamanen … : die von den Menschen bzw. der Gesellschaft verdrängten Aspekte auszukundschaften und im Zweifelsfall eine Projektionsfläche zu werden oder eine Blitzableiterfunktion einzunehmen, abgesehen von den ganz persönlichen Gefahren, in die man sich bei solchen Erkundungen begibt. Das funktioniert letztlich nur ohne Netz und doppelten Boden – oder gibt es da nicht einen Teil irgendwo versteckt im Gehirn, der die Kontrolle behält?

BR: Anton LaVey hat mal das Wort „Funfear“ geprägt: Also Spaß zu haben, während man sich einer Gefahr aussetzt, die eigentlich keine ist. Wie beim Achterbahn fahren: Da ist man angeschnallt und alles ist eigentlich ungefährlich, obwohl man den subjektiven Eindruck hat, sich einer Gefahr auszusetzen. Es mag sich so anfühlen, ist aber sicher.
Wenn ich ein Thema verfolge, ist das Ende offen, ich weiß nicht, wohin es mich führen wird und man kann nicht wissen, was geschehen wird. Diesem Weg folge ich dann, und ich könnte mir das auch gar nicht mehr anders vorstellen – wenn ich schon vorher wüsste, wohin der Weg mich bringen wird, bräuchte ich ihn ja nicht mehr zu gehen.

AN: Diese psychische Funktion des Schamanen (oder auch des Narren) in der Gesellschaft bringt mit sich, dass man durch das Vordringen in unangenehme Bereiche stigmatisiert werden kann, und Du bist ja als „enfant terrible“ der Kunstwelt bekannt. Kommt bei Dir noch ein Bedürfnis zur Provokation hinzu?

BR: Es gab Zeiten, wo ich bewusst provokant aufgetreten bin, aber die meiste Zeit bin ich meinem Instinkt gefolgt und dahin gegangen, wohin er oder es mich gezogen hat und habe das dann gemacht. Dass dabei Provokationseffekte entstanden sind, war eher eine Nebenwirkung. Ich verstehe bis heute nicht, warum manche Leute vieles so persönlich nehmen!

AN: Würdest Du Dich vor diesem Hintergrund heute noch als Faschist bezeichnen, wie Du es vor 20 Jahren getan hast?

BR: Nein. So etwas wie Faschismus gibt es nicht, oder nicht mehr. Das, was im 20. Jahrhundert Faschismus hieß, war eine kollektivistische Bewegung. An deren Stelle ist heutzutage der Konzernstaat getreten. Faschismus basiert auf Sozialismus, und ich bin kein Sozialist. Faschismus braucht die Einbindung in einen gesellschaftlichen Rahmen, um funktionieren zu können; das Kollektiv. Aber ich bin Individualist, und als solcher völlig unpolitisch.

AN: Um beim Konzernstaat zu bleiben: Selbst Obama unterzeichnet Gesetze, die die unbegrenzte Inhaftierung von US-Bürgern ermöglichen, die Konzerne steuern die Politik mittels Strohmännern und Lobbydruck. Du fliegst morgen wieder zurück in die USA, ein Land, von dem man den Eindruck bekommen könnte, es verwandle sich in einen Polizeistaat. Wie denkst Du darüber?

BR: Ich denke, es spielt gar keine Rolle, wer der Präsident ist oder was er tut. Sein Job ist für das, was geschieht, das Lob oder die Vorwürfe entgegen zu nehmen, egal was im einzelnen passiert. Es kann genauso aufwärts oder abwärts gehen; es geschieht so vieles, was überhaupt nicht kontrollierbar ist und so oder so passiert wäre. Man kann versuchen, die Gesellschaft über die Gesetzgebung zu beeinflussen, aber das sind alles externe Umstandsänderungen, die mich nicht zwingend betreffen oder mit mir zu tun haben. Ich bin apolitisch insofern die Dinge, die im politischen Leben geschehen, nichts mit dem persönlichen Leben zu tun haben. Politik beschäftigt sich mit dem Kollektiv, dem Gesamten, während ich Veränderung durch mich selber und in mir selber bewirke. Das ist der tatsächlich mögliche Wandel, aber er muss aus einem selbst kommen. Wandel von außen kann keinen Wandel im Inneren hervorbringen.

AN: You're a bloody liberal! … Aber um auf den „agent provocateur“ zurück zu kommen: Das Publikum beim Konzert eben war ja nicht provoziert von dem, was Du gemacht hast; die wußten, was sie erwarten konnten. War das der Grund, weshalb Du einen Spoken-Word-Einschub im Set hattest, „Silence is golden“?

BR: Nein, das hatte wesentlich profanere Gründe. Normalerweise sind NON-Shows ja nicht sehr lang, eine halbe Stunde vielleicht, daher habe ich das Spektrum inhaltlich und von der Länge her erweitert und noch einen Gegenpol zu den Sounds eingebaut.

AN: Ich erinnere mich an eine NON-Performance beim WGT 1992, bei dem ich die ersten paar Minuten den archaischen Fluchtreflex bekämpfen musste, vor dem infernalischen Krach Reißaus zu nehmen. Nach ein paar Minuten legte sich das, und schließlich hörte ich inmitten dieses unglaublich lauten Rauschens Harmonien wie von Engelschören, hätte aber nicht sagen können, ob diese Harmonien und Frequenzen aus Deiner kleinen schwarzen Box kamen, oder ob mein Nervensystem sie schlicht halluziniert hat, um einen Gegenpol zu dieser Lärmattacke zu schaffen … jedenfalls konnte ich nicht mehr zwischen äußerem Stimulus und innerem Erleben unterscheiden; das war schon sehr beeindruckend, wahrlich „interaktive“ Musik.

BR: (lacht) Ich wusste nicht, dass es so wirken kann! Ich hatte es gehofft, konnte aber nie sicher sein!
Mich fasziniert gerade noch etwas anderes … : Gestern wurde ich gefragt, wie ich einem blinden Menschen beschreiben würde, was bei NON passiert, und ich sagte, es höre sich an wie Engelschöre, die Feuer atmen – fast dieselben Worte, die Du benutzt hast … also muss was dran sein!

AN: Liebe Grüße übrigens von Bryin Dall; er hat mich kürzlich angeschrieben mit dem Wunsch, eine Europa-Tournee für sein Projekt Hirsute Pursuit zu … meine Güte, was für ein Zungenbrecher, wie spricht man das aus?

BR: Hirsute Pursuit.

AN: Und was bedeutet es?

BR: (gestikuliert, um eine massige Gestalt anzudeuten) Hirsute bezeichnet einen eher bulligen, haarigen Kerl …

AN: Ah ja, das was in der Schwulenszene als „Bär“ bezeichnet wird?

BR: Genau, das ist es.

AN: Den Verdacht hatte ich angesichts ihres visuellen Auftretens auch … wie kam es zu der Zusammenarbeit, und was sind die weiteren Vorhaben?

BR: Für das zweite Album von Hirsute Pursuit habe ich die Vocals für eine Coverversion von David Bowie's „Boys keep swinging“ beigesteuert. Das Album wurde bei der New York Fashion Show präsentiert – und die Modeleute sind völlig darauf abgefahren. Sie waren sehr angetan und freundlich; ich durfte mir Klamotten aussuchen und mitnehmen …

AN: Bühnenkostüme oder reguläre Anziehsachen?

BR: Nein, normale Anziehsachen … also was heißt schon normal, es waren ja sehr „modische“ Klamotten. Aber nicht übel, ich durfte mir schon welche nehmen, die mir gefielen.
Jedenfalls war das eine geheime Show, sehr gut besucht, bei der ich bei zwei Liedern mitgewirkt habe, „Boys keep swinging“ und „Total War“.

AN: „Total War“ bei der Fashion Week, haha …

BR: Ja, es hat Spaß gemacht, und ich würde gerne mehr mit ihnen machen. Wie gesagt, diese Show war unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber seit Januar 2013 gibt es öffentliche Auftritte.

AN: Woher kennt ihr euch?

BR: Wir sind uns vor ungefähr zwanzig Jahren bei Tony Wakeford daheim zum ersten Mal begegnet und verstanden uns auf Anhieb, denn für diese Party hatte irgendwer Möbel aus der Mitte des 20. Jahrhunderts mitgebracht, und weil sowohl Bryin wie auch ich große Design- und Möbel-Fans sind, kamen wir sofort miteinander ins Gespräch und verstanden uns sofort blendend. Er sammelt Möbel von Haywood Wakefield, und mit unserem Enthusiasmus für Design und alte Möbel bestimmten wir schließlich das Partygeschehen; man setzte sich um, damit wir uns besser unterhalten konnten, und irgendwie beherrschten wir schließlich die gesamte Unterhaltung im Raum; es war köstlich.

AN: Könntest Du Dir vorstellen, mit denen auf Europa-Tour zu gehen?

BR: Sicher, das wäre bestimmt spaßig.

AN: Zum Schluss noch eine Frage, bei der Du provokant sein kannst: Der Titel Deines jüngsten Albums „Back to Mono“ impliziert, dass Du eine 360°-Bewegung vollzogen hast und zu Deinen Ursprüngen in den Anfangstagen der Industrial Culture zurückgekehrt bist; das Cover von „Warm Leatherette“ deutet ebenfalls darauf hin. Was denkst Du über die gegenwärtige Noise- und Industrialmusik, und wohin glaubst Du wird sie sich entwickeln?

BR: Ich weiß es nicht. Darum hab ich dieses Album gemacht. Ich bekomme Sachen zum Anhören zugeschickt, aber … naja, ich bekomme seit ich angefangen habe und immer noch Kassetten und CDs von Leuten, aber meistens klingt es wie das Zeug, das um 1981-82 herum produziert wurde; es scheint also keine besondere Entwicklung stattgefunden zu haben. Deswegen bin ich mit „Back to Mono“ zu den ursprünglichen Inspirationen zurück gegangen und habe die Sounds gemacht, die ich mag.

AN: Was für Musik hörst Du sonst noch gerne?

BR: Persönlich mag ich ja Girl groups der 60er Jahre aus England und Deutschland, Manuela und solche Sachen. Was jüngere Musik betrifft, bin ich auf das Martyrs of Pop Label und dessen Betreiber Jean-Emmanuel Dubois aufmerksam geworden, der dort gerade ein neues Album herausgebracht hat. Ich habe Videos gesehen; es ist wunderbarer French Pop, eine Art Bubblegum-Disco, sehr niedlich und sexy.