Dieser Text entstammt dem Buch Marcus Stiglegger ( Hrsg.): Kino der Extreme. Kulturanalytische Studien, Gardez Verlag: St. Augustin 2002

Marcus Stiglegger

Sexualität und Macht
Sadomasochismus im Film

Give me back my broken night
my mirrored room, my secret life
It’s lonely here,
there’s no one left to torture
Give me absolute control
over every living soul
And lie beside me, baby,
that’s an order!

Leonard Cohen, The Future

Drunk with the nectar of submission
I feel nothing more than existence.

Douglas Pearce, Death is the Martyr of Beauty

 

Als Friedrich Nietzsche vom Tod Gottes sprach, von der Umwertung aller Werte, habe er über eine Überschreitung der selbst gesetzten Grenzen gesprochen. Gott zu töten bedeute bei ihm letztlich, einen Gott zu töten, der bereits tot ist, bzw. den Gott nur zu beschwören, um ihn in einem Akt der Grenzüberschreitung immer wieder töten zu können: „Der Tod Gottes schenkt uns nicht einer begrenzten und positiven Welt wieder, sondern einer Welt, die sich in der Grenzerfahrung entfaltet, die sich im Exzeß, der die Grenze übertritt, bildet und auflöst.“ Das ist Michel Foucaults nietzscheanischer Kommentar zum Werk des französischen Sexualphilosophen Georges Batailles, der den Akt der exzessiven Grenzüberschreitung bereits in den fünfziger Jahren zur Utopie erhoben hatte. Er definierte diese Grenze jedoch nicht als eine allseits feststellbare moralische Demarkationslinie, sondern als ein flüchtiges Phänomen, das sich im Grunde erst im Moment der Transgression offenbahre. Der Transgressionsakt kann also nicht auf Wunsch herbei gezwungen werden, sondern bedarf einer latenten Bemühung, sich dieser so diffusen wie mächtigen Grenze zu nähern. Die Transgression selbst wird zum Lebensprinzip der Philosophie Batailles: „Wenn man versuchen will, diese so reine und so verkapselte Existenz zu denken, wenn man von ihr her ihren Raum denken will, so muß man sie aus allen zweideutigen Verwandtschaften zum Ethischen lösen. Sie vom Skandalösen oder vom Subversiven befreien, d.h. von dem, was von der Kraft des Negativen getragen ist.“ In Analogie zu ihrer Nietzsche-Interpretation wenden sich Foucault und Bataille gleichermaßen gegen eine Definition ex negativo, statt dessen denken sie die Transgression als einen Akt der kulturellen Befreiung. Batailles Begriff der Transgression bezeichne den Zustand jenseits von Moral und ethischer Grenze, jenseits - schließlich - von Gut und Böse.
In Histoire de l‘oeil, seiner sadomasochistischen Prosa, spielt Bataille Akte der Grenzüberschreitung spielerisch durch, nähert sich de Sades pathologischen Todesriten ebenso wie einer enthemmten Körperfeier, die später der sexuellen Revolution der sechziger Jahre vorschwebte. Doch das „Auge“ des Titels ist nicht nur das Auge des Voyeurs, das nur wenig später der Schriftsteller und Filmemacher Alain Robbe-Grillet in seinen Werken - u.a. in dem gleichnamigen Roman Le voyeur - zum Schlüsselelement machen sollte; zu involviert ist der Erzähler bei Bataille in das groteske bis ‘obszöne‘ Geschehen. Das „Auge“ ist vielmehr Batailles visionärer Blick angesichts der nahenden Grenze, ein „Auge“, das sich öffnet im Moment der Passage, während „das Ziel meiner sexuellen Ausschweifungen eine geometrische Weißglut (unter anderem die Koinzidenz von Leben und Tod, von Sein und Nichtsein), makellos funkelnd,“ sei. Im Gegensatz zu Todeswunsch, Hass und Aggression sind für Bataille das einzige fruchtbare Medium für die Transgression die vielfältigen Riten der Sexualität. Der Michel-Foucault-Biograf James Miller bringt das auf den Punkt: „Batailles besonderes Genie zeigte sich in dem Gedanken, daß die Erotik in ihrer extremsten Ausprägung als sado-masochistische Praktik ein einzigartig kreatives Medium sei, die ansonsten unbewußten und nicht denkbaren Aspekte dieser ‘negativen Erfahrung‘ in den Griff zu bekommen, diese dadurch in etwas Positives zu verwandeln und jeden Menschen dazu in die Lage zu versetzen, im Sinne Nietzsches selbst zu wiederkehrenden Todesphantasien ‘ja zu sagen‘.“ Batailles Utopie der aktiven, positiven Transgression steht in krassem Gegensatz zu den aseptischen, erstarrten Unterwerfungstableaux, die Alain Robbe-Grillet in seinen Werken entwirft, aus denen jedes aktive Begehren gewichen ist. Und beide stehen sie im Gegensatz zu den oft destruktiven Orgien des Marquis de Sade, in denen die ‘wahre Anarchie‘ der Macht, der Zerstörungsrausch der ‘sadistischen Souveräne‘, zelebriert wird. Der tatsächliche Sadomasochismus mag in seinen weitläufigen Differenzierungen zwischen all diesen Polen schweben, getragen vor allem von der allseitigen Freiwilligkeit der Teilnahme dieser bizarren cérémonie d‘amour. Der diffuse Wunsch nach der Transgression jedoch schwebt als glühende Utopie über dem Geschehen.

Sadomasochismus, Film und Politik?
Der populäre Hollywoodfilm transportiert nichts von jenem sadomasochistischen Ritual, jener cérémonie d’amour, die von ihren intellektuellen Anhängern durchaus als ‘heilig‘ betrachtet wird. Nine a Half Weeks / Neuneinhalb Wochen (1987) von Adrian Lyne, das prominenteste Beispiel dieser Ende der achtziger Jahre durchaus in Mode gekommenen Spielart des erotischen Films, macht das Dominanz/Lust-Erleben zum Popereignis, zur domestizierten Farce - ganz im Gegensatz zu dem lakonischen, harten Roman von Elizabeth McNeil (1983 / 1999), der als Vorlage diente. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass sich der Sadomasochismus als - meist zumindest angedeutetes Phänomen - seinen Patz in der Filmgeschichte längst erkämpft hat.
Die Inspiration des filmischen Sadomasochismus‘ bleiben die klassischen Autoren der erotischen Literatur: Marquis de Sade, Pauline Réage, Henry Miller, Leopold von Sacher-Masoch, Alain Robbe-Grillet und Jean de Berg (ein Pseudonym für Robbe-Grillets Ehefrau Cathérine, ein berühmte Pariser Domina). Man kann zunächst die Sade-inspirierten Filme in drei Kategorien einteilen: jene, die direkt Bezug auf de Sades Vermächtnis nehmen; solche, die sich eher frei des Phänomens des Sadismus‘ annehmen, die auch hier im Mittelpunkt stehen sollen; und schließlich jene Filme, die eher unterschwellig sadomasochistische Motive verarbeiten. Die letzte Kategorien kann unter Umständen die verschiedensten Filmgenres umfassen, z.B. Abenteuerfilm, Komödie oder Western. Einige Regisseure haben sich direkt mit de Sades Romanen auseinandergesetzt, mehrfach z.B. der Spanier Jess Franco, der in seinem kitschig-exploitativen Kostümefilm Justine (1968) Klaus Kinski als den Autor selbst auftreten läßt, oder Cy Endfield in seinem aufwändigen Sittengemälde De Sade (1968), wo Keir Duellea Episoden aus dem Leben des Schriftstellers nachspielt. - Als stilistisch interessanteste direkte Sade-Adaption kann Claude Piersons Justine / Justine - Lustschreie hinter Klostermauern (1970) gelten, der aus dem eigentlichen Dilemma einer Sade-Verfilmung - nämlich dass die eigentliche Qualität von dessen Werk die Verwendung von Worten ist - den Schluss zieht, den Bildern eine traumgleiche, delirierende Atmosphäre zu unterlegen. So sehr er Qual und Folter ästhetisiert, so sehr enthebt er sie durch die Ästhetisierung ihres naturalistischen Bezuges. Die Tragödie der tugendhaften Justine wird zum reinen, entrückten Ritual, zum Sinnbild einer Initiation in die Leiden angesichts einer radikal materialistischen Welt. Pier Paolo Pasolini nutzte ein Werk de Sades einige Jahre später als allegorische Grundlage seiner Kritik am ‘latenten Faschismus‘ - so seine Selbstinterpretation - der italienischen Nachkriegsgesellschaft in Salò / Die 120 Tage von Sodom (1975). Auf diesen Roman hatte sich bereits der Surrealist Luis Bunuel am Ende von L’age d’or / Das goldene Zeitalter (1930) bezogen, als er eine Jesus-Figur als „einzigen Überlebenden der Orgie“ auftreten ließ. Es bleibt anzumerken, dass sich die Surrealisten der de Sadeschen Szenarien als eines möglichen ‘Traumtextes‘ jenseits der Moral bedienten, niemals jedoch mit einer direkten politischen Implikation.
Mitte der sechziger Jahre, als die Grenzen der Zensur systematisch attackiert wurden, flammt das Interesse an den ‘verfemten‘ Büchern erneut auf. Die späten Erben des Surrealismus‘, die Begründer des Panik-Theaters Alejandro Jodorwosky, Roland Topor und Fernando Arrabal, nutzten Film, Theater, Literatur und Comic-Kunst, um mit sadomasochistischen Bezügen Rituale der Entfremdung und Auflehung zu zelebrieren. Sie begannen mit der Initiations-Odyssee Fando y Lis (1968), Jodorowskys assoziativer Filmcollage nach Arrabals Theaterstück, in dem sich ein in amour fou verbundenes Pärchen auf die entbehrungsreiche Suche nach der utopischen Stadt Tar begibt und verschiedene entbehrungreiche Prüfungen durchlaufen muss. Auch der Schriftsteller Roland Topor, der durch die Vorlage zu Roman Polanskis La locataire / Der Mieter (1976) bekannt ist, arbeitete in diesem Bereich und drehte in den achtziger Jahren den bizarren Puppenfilm Marquis (1989), in dem de Sade mit Hundekopf auftritt und mit seinem sprechenden Penis diskutiert. Zu den späteren Ausläufern dieser neo-surrealistischen Bewegung gehört u.a. der deutsche Filmemacher Peter Fleischmann, der in seiner sexuellen Gesellschaftssatire Dorotheas Rache (1974) die Odyssee seiner jugendlichen Rebellin unter anderem durch die Katakomben einer Domina führt. Eines collagenhaft-surrealenen Stils bediente sich später auch Monika Treuts und Elfi Mikeschs Verführung: Die grausame Frau (1985), eine Adaption von Leopold von Sacher-Masochs emblematischem Roman Venus im Pelz (1870).
Das tatsächliche Geschehen in dem hermetischen Reich der bezahlten Schmerzen thematisierte schließlich Barbet Schroeder in seinem Drama Maitresse (1975), in dem ein junger Einbrecher (Gérard Dépardieu) von einer schönen Domina (Bulle Ogier) initiiert wird. Der Dokumentarfilm Exhibition No. 2 (1974) ließ dann sowohl ‘Herren‘ als auch ‘Sklaven‘ zu Wort kommen, doch in seiner distanzierten Haltung gelingt dem Regisseur Francois Davy kaum eine menschliche Annäherung an die sich ausgesprochen inhuman und unemotional gebärdende Domina. Immerhin gewährt er einen Einblick in die psychische Verfassung ihres freiwilligen ‘Sklaven‘, der freimütig über sein Bedürfnis nach Schmerz und Demütigung spricht. Ausgerechnet seine realen Erfahrung mit politisch motivierter Folter hätten diese Leidenschaft in ihm geweckt. Allerdings könne er eine Wiederholung der damaligen Schläge ins Gesicht nicht mehr ertragen: Sein Gesicht ist durch das unfreiwillige Erlebnis mit Qual und Unterdrückung zum Tabu für seine ‘Herrin‘ geworden.
Der Modefotograf Just Jaeckin schuf 1975 den emblematischen Höhepunkt der ‘glücklichen Sklaverei‘ mit seiner Romanadaption L’histoire d’O / Die Geschichte der O, einem ebenso manieristischen wie vieldeutig-komplexen Filmgedicht in gleitenden, weichzeichnenden Einstellungen. Dieser kommerziell äußerst erfolgreiche Film mit Corinne Cléry als ‘O‘ und Udo Kier als ihrem Geliebten, der die junge Frau mit deren Einverständnis dem dominanten décandent Sir Stephen zur ‘Ausbildung‘ übergibt, hält sich inhaltlich zwar nah an die literarische Vorlage, doch kann der Film niemals die wahrhafte Natur der angedeuteten Schmerzen vermitteln: Wo der Text von Pauline Réage sprachästhetisch immer den ‘Anstand‘ wahrt und auch erschreckendste Details in einer oft abstrakten ‘Hochsprache‘ beschreibt, rettet sich der Film in die schamhafte Abblende, etwa in der Szene der Brandmarkung.
Ungeachtet dieser sehr direkten Annäherung an sadomasochistische Stoffe brachten der auffällige Transgressions-Wille der sechziger und siebziger Jahre auch subversive Elemente auf die Leinwand, jene dritte Kategorie. Vor allem historische Stoffe dienen - wie bereits in der Literatur - als Transportmedium unerfüllter erotischer Machtphantasien. Das Inquisitionsdrama The Witchfinder General / Der Hexenjäger (1968) von Michael Reeves und die Katholizismusgroteske The Devils / Die Teufel (1970) von Ken Russell - basierend auf dem antiklerikalen Roman von Aldous Huxley - verbanden auf oft beklemmend suggestive Weise historische Settings mit sadomasochistischen Szenarien. Selbst in Western wie The Hunting Party / Leise weht der Wind des Todes (1971) von Don Medford bilden derartige psychosexuelle Modelle den eigentlichen Subtext, wobei anzumerken ist, daß in all diesen Film der Geist de Sades von seiner häßlichsten, inhumansten Seite weht: Keines der hier gezeigten Opfer befindet sich freiwillig in der mißlichen Lage.
Die mißverständlichste Adaption sadomasochistischer Szenarien für den Film visualisierte der „Sadiconazista“ der siebziger Jahre: Diese Filme versuchten waghalsig, eine direkte Verbindung von sexueller ‘Perversion‘ und politischer Barbarei zu knüpfen. Die von den selbsterklärten „Moralhütern“ des Nationalsozialismus‘ angestrebte Domestizierung und Eliminierung der Triebhaftigkeit könne nur - so die Perspektive dieser Filme - zu einer unterdrückten Sexualität geführt haben, die dann in Akten perverser Dekadenz hemmungslos nach Abreaktion drängte. Immer wieder kommt es dabei zu einer Auseinandersetzung mit der Figur Adolf Hitler: „Später [...] verfielen nicht wenige Filmemacher, die das Phänomen Hitler emotional, analytisch oder visuell zu deuten versuchten, auf die Idee, ihm eine verdrängte Sexualität zu unterstellen. Dieser Mann, der sich nach außen hin streng, asketisch, scheinbar geschlechtslos und ohne privat-individuelle Züge darstellte, konnte nur ein Wüstling sein, der sein wahres Ich geschickt zu tarnen verstand. Deshalb spielen diese Filme immer wieder auf der Geige der Lust, der hemmungslosen Geilheit, die sich in ausschweifenden Orgien hinter verschlossenen Türen austobte.“ Nach diesem einfach strukturierten freudianischen Modell - das historisch gesehen wenig aussagekräftig ist - ist z.B. die Welt des SS-Bordells Salon Kitty / Doppelspiel (1975) beschaffen, die Tinto Brass in seinem gleichnamigen Film zeigt. Viele italienische Filmemacher verbinden mit dieser Idee der Dekadenzauffällig oft auch zusätzlich eine latente Homosexualität (wie Roberto Rossellini bereits in Roma, citta aperta / Rom, offene Stadt, 1945, und Bernardo Bertolucci in Il conformista / Der große Irrtum, 1970) oder einen destruktiven (Pseudo)-Sadomasochismus (wie Liliana Cavani in ihrem finsteren Psychodrama Il portiere di notte / Der Nachtportier, 1973). Dieser Film stellte den Prototyp einer ganzen Welle teils reißerischer, oft an der Grenze zur Pornographie rangierender Exploitationfilme, die die genoziden Verbrechen des Dritten Reiches als Hintergrund für meist triviale Erotikdramen benutzten.
Die historisch und sexualpsychologisch problematische Verbindung von totalitärer Politik und sadomasochistischer Veranlagung im realen Leben hat sich bis heute in unterschiedlichen Diskursen als Schlagwort gehalten: Zum einen dient sie den plakativen Ausläufern des Feminismus‘ als undifferenzierter Kampfbegriff („Sexualfaschismus“), oft gepaart mit der Behauptung, der Sadomasochismus‘ ‘verherrliche Gewalt gegen Frauen‘. Unberücksichtigt bleibt dabei die Tatsache, dass es sich beim sadomasochistischen Akt um einen beiderseits freiwilligen handelt, was man von einer totalitären Täter-Opfer-Beziehung nicht behaupten kann; zudem ist das Verhältnis sadomasochistischer Männer und Frauen in der Szene selbst ausgeglichen. Unterschieden werden muss auch zwischen einer historisch verorteten sexuellen Fantasie und - wiederum - dem tatsächlichen historischen Geschehen, in dem das Opfer der herrschenden Instanz auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Gerade ein Film wie Il portiere di notte zeigt beide Phänomene: Zunächst als historisch verortetes Zwangsverhältnis, dann als freiwilligen sexuellen Akt, in dem die Protagonistin zudem das Verhältnis umkehren kann. - Auch die konservative Politik greift gerne auf die „Sexualfaschismus“-Unterstellung zurück, um ‘abweichendes‘ Sexualverhalten zu stigmatisieren und auszugrenzen. Von den Vertretern der S&M-Szene wird die historisch verortete Sexualfantasie vielmehr als eine Form des Exorzismus‘ betrachtet - als harmlose Verarbeitung und Kanalisierung alltäglicher Dominanz- und Unterwerfungswünsche, die sich bei den meisten ‘konventionellen‘ Charakteren - falls man davon sprechen kann - im Alltags- und Berufsleben auswirken.


Pornografie / Macht / Blicke
Gerade der pornografische Film der siebziger Jahre nahm sich vermehrt des Themas Sadomasochismus an: Regisseure wie Radley Metzger, José Benanzéraf oder Gerard Damiano adaptierten wildeste Visionen der (meist weiblichen) Unterwerfung. Doch ist der Begriff der Pornografie in diesem Zusammenhang problematisch. Susan Sontag versucht in ihrem Essay The Pornographic Imagination, den Begriff der Pornografie interessanterweise am Beispiel des Romans L’histoire d‘O von Pauline Réage und anderer Erzählungen zu konkretisieren. Sie unterscheidet dabei drei Arten der Pornographie: 1. als Gegenstand der Sozialgeschichte, 2. als psychologisches Phänomen und 3. als Konvention innerhalb der Kunst, wobei sich die Autorin hauptsächlich mit Kategorie 3. beschäftigt. Filme und Bücher „qualify as pornographic texts insofar as their theme is an all-engrossing sexual quest that annihilates every consideration of persons extraneous to their roles in the sexual dramaturgy, and the fulfillment of this quest is depicted graphically.“ Der pornographische Roman bzw. Film arbeitet also mit Typen statt individuellen Charakteren, er transzendiert die Persönlichkeit, um sie als Projektionsfläche für die Bedürfnisse des Rezipienten tauglich zu machen. Analog zu Batailles Transgressions-Idee fügt die Autorin noch hinzu, daß die „Wollust“ und das „Obszöne“ nur dann beschworen werden können, wenn der verdeckte Bezug der Sexualität zum Tod betont wird. Susan Sontag betont auch die an religiösen Elementen orientierte Struktur der Pornographie: das Ritual, die Passage und das Opfer werden in den nach einem festen Schema erfolgenden Akten reflektiert.
Linda Williams schließlich widmete ihre weit jüngere Arbeit Hardcore v.a. dem Pornofilm. Sie definiert den pornographischen Film als ein Genre, das durch die Darstellung real ausgeführter Sexakte eine Stimulation des Zuschauers erreichen will. Dazu stehen dem Pornofilm einige Standards zur Verfügung, die sich an spezifischen sexuellen Praktiken orientieren, z.B. Vaginalverkehr, Analverkehr, Doppelpenetration, Lesbenakt und Oralsex, und oft in Nahaufnahmen ausführlich präsentiert werden. Man bezeichnet derartige Nahaufnahmen nackter Körper bzw. Genitalien als meat shots. Höhepunkt des pornographischen Films ist in vielen Fällen die externe Ejakulation des Mannes, der Beweis für den Orgasmus, hier money shot genannt. Die Struktur des Pornofilms wird meist von einer Rahmenhandlung umklammert, die etwa Milieu und Zeit der Handlung vorgibt, orientiert sich ansonsten aber an aufeinanderfolgenden oder durch Parallelmontage verschachtelten Episoden, den „Nummern“ oder Setpieces. Diese in sich abgeschlossenen Sequenzen verweisen zurück auf die Anfänge des pornographischen Films bereits in der Stummfilmzeit, als diese häufig nur aus einer Rolle bestanden und nur eine rudimentäre Handlung aufwiesen. Nachdem Linda Williams bereits darauf verwiesen hat, daß man den weniger expliziten Sexfilm als Vorform des modernen Pornofilms betrachten muß, kommt sie in einem späteren Kapitel darauf zurück: „Macht, Lust und Perversion. Sadomasochistische Pornographie im Film“. Detailliert stellt sie den Unterschied des sadomasochistischen Pornofilms gegenüber dem gängigen heterosexuellen Pornofilm dar. Tatsächlich kommt sie hier auf die filmischen Äquivalente zurück, die Susan Sontag als Beispiele für Pornographie als „Konvention innerhalb der Kunst“, also als ästhetische Pornographie beschrieb; analog zu Susan Sontags Orientierung an Batailles Transgressions-These lassen sich ihre Beispiele Réage, Bataille und de Berg (Cathérine Robbe-Grillet) alle der sadomasochistischen Pornographie zuordnen, wie sie Linda Williams in ihrem Kapitel u.a. anhand des Films Punishment of Anne (1975) von Radley Metzger definiert. Die sensationalistische Struktur des billig gedrehten Exploitationfilms erläutert sie zunächst am Beispiel des vorgeblich gewaltpornographischen Films Snuff (1975) des Ehepaars Findlay, der - obwohl die hier gezeigte Gewalt durchweg mit Spezialeffekten simuliert wird - den Gattungsbegriff für echte Gewaltpornographie, die natürlich nicht in offiziellen Kinos gezeigt wird, lieferte. Die Werbung suggerierte, auch dieser Film sei „authentisch“, was ein anschauliches Beispiel für die kommerziellen Mechanismen des Exploitationkinos bietet. - Linda Williams unterscheidet drei Kategorien der sadomasochistischen Pornographie: 1. den Amateur-Sadomasochismus: Es handelt sich hierbei um halbprofessionelle, billig produzierte filmische Dokumentationen eines sadomasochistischen Aktes, der im Gegensatz zum Pornofilm nicht unbedingt in einem Orgasmus bzw. dessen Simulation gipfeln muß; 2. den sadomasochistischen Akt als eine unter vielen Nummern im gängigen Pornofilm; hier geht es lediglich um einen leichten Bruch der vorhersehbaren Monotonie standardisierter Nummern; sowohl in Fall 1. und 2. soll der Zuschauer die sexuellen und die ‘gewalttätigen’ Akte als authentisch wahrnehmen; das ändert sich im nächsten Fall: 3. dem ästhetischen Sadomasochismus.
In der letzten Kategorie wird dem Phänomen entsprochen, daß es sich bei dem sadomasochistischen Psychodrama letztlich immer um eine ausgedehnte Inszenierung, ein Dominanz- und Unterwerfungs-Szenario handelt, das des visuellen Beweises wie er im Amateur-Sadomasochismus erbracht wird (die gerötete, geschwollene Haut, der Blutstropfen), nicht unbedingt bedarf. Der Moment der Bedrohung ist in diesem Kontext wichtiger als die tatsächliche Ausführung, die die Qualität des „reinen Zeichens“ hat, das nach Roland Barthes „nicht berührt“. Um einen sadomasochistischen Reiz zu entfalten, muß also die narrative Struktur in das pornographische Szenario wieder eingeführt werden, zumindest im weiteren Bereich des „ästhetischen Sadomasochismus‘“. Das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen der Macht durch Unterdrückung und der Macht des Unterworfenen, insofern diese Unterwerfung freiwillig stattfindet, kann nur in einem komplexen, ausgeklügelten Szenario vermittelt werden, wie es Ai no corrida / Im Reich der Sinne (1976) von Nagisa Oshima, Maitresse von Barbet Schroeder oder Punishment of Anne bieten. In diesen Filmen sind meat shots präsent, erweisen sich aber häufig als beiläufig integrierte Details.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es nur wenige der genannten Filme schaffen, jenes so rätselhafte Phänomen der sadomasochistischen Transgression tiefergehend zu ergründen. Effektiv sind dabei lediglich solche Filme, die in analytischer Distanz selbst um ihr Thema kreisen, um so wenigsten Fragmente und Facetten davon spürbar zu machen oder aber jene Werke, die ein hermetisches, exklusives Areal erkunden, in dem sich die Protagonisten völlig preisgeben: Beispiele für letzteren Zugang wären Ai No Corrida, Il portiere di notte und Pedro Almodovars Stierkampf-Allegorie Matador (1986). Der im Folgenden behandelte japanische Spielfilm Topâzu / Tokyo Dekadenz (1992) mag dagegen für einen eher analytischen Ansatz stehen.

Sadomasochismus als materialistisches Ritual
Der japanische Romancier und Filmemacher Ryu Murakami entwirft in seinem frühen Roman Kairinaku tomei ni chikai buru (engl. Almost Transparent Blue, 1976), den er auch selbst verfilmte, das zermürbende Bild einer Nachkriegsjugend, die den importierten Lebensstil der amerikanischen Besatzer bis zur Selbstaufgabe kopiert und im Verlust der eigenen kulturellen Tradition die Identität zu verlieren scheint. Was der Autor dort in drastischer Prosa beschreibt - die meist sexuelle Unterwerfung unter den imperialistischen Besatzer, der Drogen und Rock’n’Roll mit bringt -, sollte bis heute das Schlüsselthema dieses emblematischen japanischen Künstlers werden. Es erscheint zunächst gewagt, einen japanischen Film auf den Zustand der europäischen Gesellschaft anzuwenden, doch gerade sein Drama Topâzu, von Ryu Murakami nach seinem eigenen gleichnamigen Roman inszeniert, fabuliert mit eindringlichen, nüchternen Bildern das Bild einer materialistischen Gesellschaft, die sich den Körper vollkommen unterworfen hat. Das lässt sich für Oshimas historisch verorteten Film Ai no corrida nicht sagen.
Topâzu erzählt auf einer ersten Ebene das ernüchternde Porträt einer käuflichen S&M-Sklavin im Japan der frühen Neunziger Jahre. Die japanische Gesellschaft befindet sich in einer Art kapitalistischer Starre, die Straßen erscheinen leer, erst hinter verschlossenen Türen beginnt die bizarre Mechanik des teuer erkauften Vergnügens. Ai - japanisch für „Liebe“ - (Miho Nikaido) ist jene Prostituierte, unsicher pendelnd zwischen professionalierter Schmerzlust und emotionaler Irritation. In der Konsequenz ihres Handelns wird Murakami schließlich einen unerfüllten Hang zur Romantik entdecken, der sie fast ihren Verstand kostet. In ihrer Vergangenheit verliebte sie sich in einen reichen Kunden, der sie äusserst zuvorkommend behandelt hatte. Aber der Mann verlor schnell das Interesse an ihr. Die fixe Idee dieser ‘verlorenen Liebe’ wird den ganzen Film hindurch immer wieder durchbrechen. Ihre Suche nach Glück endet immer wieder in sterilen Hotelzimmern, in denen sie zum Sexspielzeug degradiert wird.
In der ersten Szene, der Pretitlesequenz, werden auf schockierende Weise die Spielregeln geklärt: „Vertrauen ist der Schlüssel zum S&M-Spiel,“ sagt der wie ein weiser Hohepriester des Schmerzes agierende, tatsächlich aber etwas verhuschte und schmierige Kunde zu der auf einen Gynäkologenstuhl gefesselten und geknebelten Ai. Als er ihre Augen verbinden will, protestiert sie zunächst, doch er fährt zielstrebig fort: Sorgfältig injiziert er mit einer kleinen Spitze Heroin in die Innenseite ihres Oberschenkels. Zu einem traditionellen Gesang, beginnt er, ihre nackten Füße zu liebkosen, dann scheint er sie mit einem Gegenstand zu penetrieren - der Vorgang findet jedoch außerhalb des Bildkaders statt. Als er den Knebel aus Ais Mund nimmt, läuft ein Speichelfaden aus ihren erstarrten Lippen. Lange blicken wir in dieses halb betäubte, halb schockierte Gesicht...
Auf dem Weg zu einem reichen Kunden, eventuell ein Yakuza-Gangster, konsultiert sie eine mysteriöse Wahrsagerin. Nach einem Blick in ihre Handfläche bekommt sie drei Empfehlungen: Sie solle eine Telefonbuch unter ihren Fernseher legen, sich von Museen im östlichen Teil der Stadt fernhalten und einen Ring mit einem pinken Stein an ihrem Mittelfinger tragen... Dieser Topaz ist bereits im Originaltitel das Symbol für Ais zermürbende Suche nach einem bürgerlichen Glück, das diese Gesellschaft nicht für sie bereithält. - Mr. Ishioka (Masahiko Shimada), der nächste Kunde, entpuppt sich als feister, kaltblütiger Zyniker. „Japan ist reich, aber ohne Würde,“ sagt er zu Ai, die er systematisch auf einen Akt der totalen Unterwerfung vorbereitet. Er selbst wird zur Inkaranation dieser dekadenten Perspektive. Erst schmiert er ihr mit Gel die Haare zurück - wobei er darauf verweist, daß die Nazis den KZ-Häftlingen auch die Haare geschoren hätten, um sie zu demütigen -, dann läßt er sie stundenlang halbnackt vor dem Panoramafenster der Suite posieren, um in quälender Langsamkeit den Slip abzustreifen. Dieses Bild ist emblematisch für den Film geworden, zeigt es doch die Frau in der Totalen als reine Spieluhrenpuppe. Erst in Nahaufnahmen sieht man ihr den Schweiß über den Körper rinnen. Ishioka führt ihr einen Vibrator ein und befestigt ihn mit Klebeband, nachdem sie geduscht hat. Ai muß auf allen Vieren durch das Zimmer kriechen, während ihr Kunde seine Frau anruft. Er lädt sie zur ménage à trois. Ishiokas Frau erweist sich als noch dekadenter als ihr Mann - sie ist die „dreckige, geile Geschäftsfrau“, von der er spricht: Ai soll die beiden Kopulierenden an den Genitalien lecken.
Später muß Ai bemerken, dass sie ihren Ring im Zimmer Ishiokas vergessen hat. Bei ihrem nächsten Auftrag - im selben Hotel, gleichsam einem pointierten dekadenten Mikrokosmos - will sie sich erneut in die vorangehende Szenerie begeben. - Bevor Ai jedoch an Ishiokas Tür ankommt, stürmen Yakuza-Gangster in Zeitlupe das Hotelzimmer, beschuldigen ihn des Versagens und demütigen ihn. Sie fesseln seine Frau, flößen ihr Drogen ein und lassen den hilflosen Ishioka dabei zusehen. Danach vergewaltigen und schlagen sie die Gefesselte. Ai klopft an der Tür und unterbricht das Spektakel. Ein Yakuza zieht sie in das Zimmer und sie realisiert mit wenigen Blicken die Situation. Hier bekommt das eingefrorene Geschehen die Qualität eines grausamen sadeschen Tableaus: Die gequälte Frau, wie sie in einem Netz von Bondageschnüren und Tropfkanülen hängt... Ai reißt sich geistesgegenwärtig los und kann tatsächlich entkommen. Der Vergewaltiger wendet sich erneut seinen Opfern zu; um seine Macht zu demonstrieren, schlitzt er der Frau die rechte Gesichtshälfte mit einem Tanto-Messer auf. - Ai hetzt zum Fahrstuhl und trifft auf ihre Kollegin Miyuki, die nach dem Grund ihrer Panik fragt. Es sei nichts, Mr. Ishioka sei nicht zu Hause gewesen...
Ein schier unersättlicher, drogensüchtiger junger Kunde (Hiroshi Mikami), dessen Potenz deutlich unter übermäßigem Crack- und Kokain-Konsum gelitten hat, bittet die beiden Frauen, ihn durch langes Würgen zum Orgasmus zu bringen. „Wenn ich stop sage, drück noch fester zu!“ Sie befolgen seine Wünsche und strangulieren den nackten, körperlich sehr verweichlicht wirkenden Mann. Sein Gesicht schwillt an, seine Augen verdrehen sich, seine Blase entleert sich in das übergestreifte Kondom und sein Atem stockt. Die Frauen werden panisch, bedecken sein Gesicht mit einem Laken und beginnen, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie wollen keine Spur zurücklassen. Plötzlich erwacht der Scheintote unter dem Laken. Voller Euphorie verkündet er, er habe seine Mutter getroffen, die im Vorjahr gestorben sei. „Sie sagte: ‘Verschwinde!’“ Hier schneidet der Murakami weg: ein typischer Bruch in der fragmentierten Dramaturgie dieses Films, der immer wieder menschlich-emotionale Dispositionen zu etablieren scheint, die er nach einer unerwarteten Wendung abbrechen lässt, um letztlich das Gefühl einer zwischenmenschlichen Leer zurückzulassen. Jede Figur lebt ausschließlich in ihrer eigenen Vorstellungswelt, mit der eine Konfrontation nur befremdlich wirken kann. - Der zunächst freundliche alte Geschäftsmann entpuppt sich in seinem Hotelzimmer als zudringlicher Vergewaltigungsfetischist: Er ist besessen von der Idee, vor einem Dia des Fujijama, das er an die Schlafzimmerwand projiziert, eine historisch überlieferte Vergewaltigung eines unschuldigen Bauernmädchens nachzustellen. Was als harmloser und bescheidener Kunde angekündigt war, ist schließlich auch für Ai zuviel. Sie flieht...

Ein Versprechen. Keine Erfüllung
Das letzte Viertel von Topâzu ist die radikale Visualisierung von Ais psychischem Zusammenbruch. Obwohl Murakami gerade diese Passagen interessiert zu haben scheinen - hier taucht u.a. eine der zahlreichen Tanzszenen auf, die für ihn typisch ist - wurde sie in der deutschen Fassung gekürzt, um den Film als ‘Softporno‘ vermarkten zu können. Ais Zusammenbruch ist so nur noch zu erahnen. In der Originalfassung mit 135 Minuten geraten die sadomasochistischen Szenarien nicht zum Stimulans, sondern betonen um so mehr die Entfremdung und Einsamkeit Ais, die Mangels einer individuellen Selbstdefinition zwischen der Romantikerin und der Sklavin zerbricht. Murakamis Film benutzt das sadomasochistische Szenario durchweg als Metapher für eine durch und durch materialisierte Gesellschaft, deren erstes Opfer die Würde und Individualität ihrer Bewohner ist. Topâzu nutzt demnach die sadomasochistische Thematik, um das Leben der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft und der materialistischen Konsumgesellschaft schlechthin als schleichenden Zerstörungsmechanismus zu entlarven. „Jemand so rein wie Du ist die einzige Hoffnung für dieses verkommene Japan,“ bekommt Ai in der ersten Sequenz von ihrem Kunden gesagt. Doch die Frau mit dem so deutlich sprechenden Namen ist alles andere als ‘rein‘ - sie ist das vielleicht ohnmächtigste Rädchen im Getriebe des Geschäftes mit der sexuellen Lust, verdammt, an ihrer romantisch verklärten Naivität zu zerbrechen. Der moderne Impuls der Individualität, ihr Wunsch nach Ausdruck und Entfaltung, letztlich nach Liebe, wird Ais Charakter am Ende zur totalen Auflösung bringen - nur scheinbar allerdings, so vermittelt es die letzte Sequenz, denn dort richtet sie wie jeher vor dem Spiegel einer öffentlichen Toilette ihr Makeup und verläßt geschäftigen Schrittes den Raum, auf dem Weg zum nächsten Kunden. Der materielle Kreislauf duldet keine individuellen Eskapaden.
Stilistisch findet Topâzu die Entsprechung zu diesem gesellschaftsanalytischen Konzept in einer komplementären Polarität der Farben Tintenblau und Orange. Die Musik des japanischen Avantgarde-Popmusikers Ryuichi Sakamoto untermalt das Geschehen häufig mit einem jazzigen Easy-Listening-Gestus, baut also eine zusätzliche Distanz zu den kühlen Bildern Tadash Aokis und der oft apathischen Schauspielkunst auf. „Das Verhalten meiner Charaktere ist sehr japanisch. Sie bedienen sich des Sadosex und der Drogen, als würden sie eine Teezeremonie oder Bonsai praktizieren. Kaum nach Idenität, Erleichterung oder Flucht in dieser Erfahrung suchend praktizieren sie diese Praktiken als stilisierte Rituale.“ So kommentierte der Regisseur seinen Film. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Mark Edmundson malt in seinem Buch Nightmare on Mainstreet ein vergleichbares, durchaus dystopisches Gesellschaftsbild aus - dort bezogen jedoch auf die amerikanische Gesellschaft: „A culture approaching pure S & M [...] would be one where human realtions, especially erotic relations, would allways be defined as power relations. Equality in loe, as well as in politics and social life generally, would no longer be a tenable ideal. It would be impossible in such a culture to conceive of any relation, with husband, with child, with neighbor, or with friend, except in terms of domination and submission; in an S & M culture, love (if one could still use that word) would always be love of power.“ Diese Argumentation geht den umgekehrten Weg: Edmundson spricht von einem latenten sexuellen Subtext, der die Gesellschaft zu dominieren beginnt. Murakamis Film dagegen zeigt die Auswirkungen des japanischen Kapitalismus‘ auf das Sexualleben der Großstadtmenschen. Sadomasochismus ist hier tatsächlich die Reflexion realer Dominanz und Submission: Wer die wirtschaftliche Macht hat, erkauft sich die Unterwerfung der Mitmenschen. Topazû spielt in solch einer vollkommen durch-kommerzialisierten Welt, in der alles käuflich ist. Es gibt keine moralische Richtgröße für die Charaktere - es sei denn der vage Traum einer grob vorgedachten bürgerlichen Flucht -, die Welt dieses Films ist tatsächlich dominiert vom Verlust der Ethik. Die Transgression - falls man in der dargestellten Gesellschaft davon sprechen kann - ist zum Versprechen des kommerziellen Handels degradiert worden, zu einer bestellbaren Dienstleistung, die sich längst von ihrem Ursprung im Unberechenbaren, in der genußvollen Auflösung entfernt hat und diese Bezeichnung letztlich nicht verdient. Folglich bleibt Ai nur noch die verzweifelte Suche nach fragmentarisch bewahrten bürgerlichen Werten: die romantische Liebe, die Familie, das eigene Vorstadtheim. Sie ersehnt ein bizarre Form der rückwärtsgewandten, ‘konservativen Transgression‘, im Leben an der Grenze des Faßbaren ersehnt sie das stabile Leben. Doch der reine Materialismus von Murakamis Tokyo hat diese Ebene für eine Prostituierte wie Ai bereits unerreichbar gemacht. Die positive, befreiende Utopie eines Transgressionsaktes, wie Georges Bataille ihn definierte, zeigt eher Radley Metzgers The Punishment of Anne: Dort ist die junge Anne, die von dem dominanten Pärchen zunächst mißhandelt wird, letztlich nur eine Projektion, eine Phantasie, die sich mit der am Ende stehenden Reife des dominanten Protagonisten verflüchtigt. Das stellvertretende Objekt der Begierde verschwindet im Moment der Überschreitung, als die ‘Herrin‘ von Anne endlich selbst zur ‘Sklavin‘ werden kann. - Ai in Topazû ist selbst eine sexuelle Projektion für ihre zahlenden Kunden (wie Anne bei Metzger), doch - so deutet es der Schluss des Films an - sie ist gefangen im Ritual der sexuellen Dienstleistung, die das Versprechen der Transgression, der konstruktiven Überschreitung, Tag für Tag neu aufbaut, ohne je ans Ziel zu gelangen. So bleibt ihr weiterhin der Traum von einer ‘wahren Liebe‘, die sich nie erfüllen wird. Diese Gesellschaft ist nicht die Welt für Utopien. Es ist die Welt der simulierten Erfüllung.

Literatur:
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