Seduktionstheorie des Films IV

Peter Moormann

Anatomie einer Leidenschaft

Anmerkungen zu Bernardo Bertoluccis transgressivem Liebesfilm DER LETZTE TANGO IN PARIS

 

Mit Ultimo tango a Parigi gelang Bernardo Bertolucci ein Skandalerfolg Anfang der siebziger Jahre. Begünstigt durch Gerüchte um extreme Sexszenen, gerichtliche Klagen und Verbote, spielte der Film, dessen Budget lediglich bei 1,2 Millionen Dollar lag (vgl. David Thompson: Last tango in Paris. London 1998, S. 16), insgesamt über 40 Millionen Dollar ein (vgl. Dietrich Kuhlbrodt: L´ultimo tango a Parigi. In: Peter W. Jansen / Wolfram Schütte: Bernardo Bertolucci. München 1982, S. 170). Obwohl Ultimo tango a Parigi in den USA als Pornofilm vermarktet wurde (vgl. ebd.), erkannte die Filmkritik schon früh seine künstlerische Qualität. Die amerikanische Kritikerin Paul Kael sah in ihm gar „the most powerfully erotic movie ever made“ (Pauline Kael: Last Tango in Paris. In: The New Yorker 47, Nr. 10 (Oktober 1972), S. 130) und verglich seine Bedeutung für die Filmge-schichte mit der Stellung von Strawinskys Le Sacre du Printemps für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts (vgl. Pauline Kael. a.a.O., S.130). Bertolucci ver-zichtet auf die explizite Darstellung von Sexualität und präsentiert abnorme Sexualpraktiken stets als Simulationen. Dennoch geht von den Sexszenen eine enorme Intensität aus, die Moral- und Gesetzeshüter zum Handeln veranlasste. Großen Anteil daran, dass die Bilder Bertoluccis als so verstörend und schockierend wahrgenommen wurden, hat die Arbeit des Malers Francis Bacon, dessen Bildäs-thetik eine zentrale Stellung in diesem Werk Bertoluccis einnimmt.

Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung wird daher zunächst der Einfluss Bacons auf Bertolucci stehen, der sich auf unterschiedlichen Ebenen des Films manifestiert. Anschließend werden einzelne mythische Strukturen des Filmes erarbeitet. Insbesondere wird dabei auf die Rolle des Orpheus-Mythos´ eingegangen. Ein weiteres Kapitel widmet sich der dargestellten Erotik im Film, die im Hinblick auf ihre transgressive Kraft analysiert wird. Anschließend soll die Rolle des Tangos im Film erörtert werden. Im Fazit werden dann die einzelnen Kapitel zusammengeführt, um zu einer stimmigen Interpretation des Films zu gelangen.

Bacon und Bertolucci

Bertolucci unterlegt den Vorspann mit zwei Gemälden des irischstämmigen Malers Francis Bacon und signalisiert damit die zentrale Bedeutung seines Werkes für den Film. Sie spiegeln nicht nur die Psyche der Hauptfiguren wider, sondern bilden auch die Grundlage für die visuelle Gestaltung des Films (vgl. Robert Phillip Kolker: Bernardo Bertolucci. London 1985, S. 128). Untermalt werden diese Reproduktionen von schwermütigen Tangoklängen des Komponisten Gato Barbieri, die die depressive Stimmung, die von den gezeigten Porträts ausgeht, inten-sivieren.

Bei dem ersten Bild handelt es sich um den linken Teil des Diptychons „Double Portrait of Lucian Freud and Frank Auerbach“ aus dem Jahr 1964. Ein Mann im fensterlosen, orangefarbenen Raum liegt auf einem roten Diwan, dessen vorderes Ende zu Boden zu fließen scheint. Sein Gesicht ist völlig deformiert, die Extremi-täten nehmen abnorme Stellungen ein. Seine Haut wirkt wachsgleich, einzelne Muskelstränge werden besonders betont. Das zweite Gemälde, „Study for a Portrait (Isabel Rawsthorne)“, ebenfalls aus dem Jahr 1964, zeigt eine Frau, die inmitten eines ebenfalls fensterlosen Raumes mit schwarzen Wänden zusammengekauert auf einem Stuhl hockt. Sie wendet ihren Blick vom Betrachter ab. Auch ihr Körper ist deformiert und wirkt leblos, wie totes Fleisch (vgl. Claretta Micheletti Tonetti: Bernardo Bertolucci. The Cinema of Ambiguity. New York 1995, S. 126).

Bacon kreiert zerklüftete Körperlandschaften, die inneren Schmerz, innere Zerrissenheit auf schockierende Art und Weise veräußerlichen. Dabei sind anatomische Verzerrungen, Verschiebungen, Auflösungen sowie die Abgeschlossenheit der Person im Raum zentrale Bildmomente, die sich auch in der filmischen Arbeit Bertoluccis wiederfinden.

Insbesondere die Hauptfigur Paul (Marlon Brando) verkörpert mit ihrer Mimik und Gestik die Figuren Bacons. Bertolucci selbst, der im Vorfeld der Arbeiten zu Ultimo tango a Parigi eine Bacon-Ausstellung in Paris besuchte, betont die Bedeutung dieses Malers in Bezug auf die Persönlichkeitskonstruktion Pauls:

“I went back to see the show with Marlon [Brando]; I wanted him to compare himself with Bacon´s human figures because I felt that, like them, Marlon´s face and body were characterized by a strange and infernal plasticity.

I wanted Paul to be like the figures that obsessively return in Bacon: faces eaten by something coming from the inside.”
(zitiert nach: Claretta Micheletti Tonetti. a.a.O., S. 126)

Gleich in der ersten Einstellung verwandelt sich Brando in eine der schmerzerfüllten Figuren Bacons. Die erste Aufnahme zeigt Paul auf einer Brücke in Paris, während über ihm eine Metro-Bahn mit Getöse vorbeirollt. Er hält sich die Ohren zu, schaut schmerzverzerrt zum Himmel auf und schreit „Fucking god!“. Dieser Aufschrei erinnert nicht nur an Edward Munchs berühmtes Gemälde „Der Schrei“, sondern vielmehr an ein Gemälde Bacons mit dem Titel „Study of Pope Innocent X by Velasquez“ aus dem Jahr 1953. Bacon visualisiert in diesem Bild einen entsetzlichen Schrei unendlichen Schmerzes und totaler Resignation. Die Papst-Figur sitzt auf einem Thron, seine unteren Gliedmaße fehlen. Der Körper scheint lediglich aus Knochen und Haut zu bestehen. Der Mund des schmerzver-zerrten Gesichtes, das in roten, weißen und violetten Tönen gehalten ist, ist so weit geöffnet, dass das Innere der Figur nach außen zu treten scheint. Gerade diesen veräußerlichten Schmerz verkörpert Paul in der ersten Einstellung des Films und seine Worte verbalisieren den Inhalt des Gemäldes von Bacon (vgl. Claretta Micheletti Tonetti. a.a.O., S. 126f).

Einen weiteren Verweis auf Bacon liefert die Kleidung Pauls. Mit Pauls hellbraunem Mantel zitiert Bertolucci die Selbstporträts von Bacon Ende der 60er Jahre, in denen sich der Künstler selbst mit braunem Mantel abbildete (vgl. David Thompson. a.a.O., S. 28). Ebenso spiegeln sich Bacon und seine Figuren in Pauls Körperhaltungen wider. Insbesondere bei den Szenen im leeren Appartement lassen sich Analogien zu den im Vorspann präsentierten Porträts herstellen. Mal sitzt Paul zusammengekauert, wie die weibliche Figur an der Wand, mal liegt er auf dem Boden, das eine Bein über das andere geschlagen, wie in der männlichen Studie (vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 129). Auch die Gestaltung der Innenräume erinnert stark an Bacon. Bertoluccis Figuren befinden sich ebenfalls in Räumen, in denen der Kontakt zur Außenwelt aufgehoben zu sein scheint. Die Fenster und Fensterläden sind geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Wie bei Bacon geben die Innenräume im Film Auskunft über das psychische Befinden der Figuren, die sich in einem Zustand der inneren Deformation und Auflösung befinden. Mittels Spiegeln und Glasscheiben versucht Bertolucci das morbide Innenleben seiner Figuren zu veräußerlichen. Er selbst verweist hierbei auf Bacon:

„I took Vittorio Storaro to see Bacon´s paintings, and Fernando Scarfiotti, and Gitt, the costume designer, and they were all very impressed. Vittorio and Fernando ended up playing a lot with frostes glass, and I remember we did these close-ups of Marlon behind the glass, which were very like Bacon. I would say, today we´ll do a Bacon, bring the glass!”
(zitiert nach: David Thompson. a.a.O., S. 28)

In der Bar, gleich zu Beginn des Films, wird Paul durch die milchige Glastür einer Telefonkabine photographiert, seine Konturen sind völlig verschwommen. Auch als Paul später das Bad betritt, in dem seine Frau zuvor Selbstmord begangen hat, tritt er hinter eine diffuse Opalglasscheibe, die seine Konturen völlig aufzulösen scheint. Hinzu kommen das Blut an der Scheibe, das durchdringende Geräusch fließenden Wassers und die todbringende Rasierklinge, die den Raum in ein Schlachthaus verwandeln, eine Assoziation, die sich auch bei Bacon finden lässt (vgl. David Thompson. a.a.O., S. 37). In einer anderen Szene spiegelt sich ein Freier in der Fensterscheibe, durch die Paul schaut. Beide Gesichtskonturen verschwimmen miteinander zum bizarren Zerrbild (vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 145).
Auch Jeanne (Maria Schneider) wird mit solchen Deformationen in Beziehung gebracht. Vor der Telefonkabine in einer Bar beobachtet sie eine alte Frau, wie sie ihr Gebiss im Waschbecken reinigt, es mit einem unangenehmen Geräusch wieder in den Mund einsetzt und sich im Spiegel betrachtet. Ihre Augen werden durch Brillengläser vergrößert, ihre Zahnprothese wirkt beim Einsetzen monströs. Daraufhin blickt die junge, bildschöne Jeanne in den Spiegel und streicht sich mit der Hand über ihr makelloses Gesicht, als ob sie sich ihrer selbst vergewissern müsste. Denn das zuvor Betrachtete ist bereits zum Zerr- und Schreckensbild ihrer selbst geworden. Ebenso zur Fratze wird das Gesicht der Pförtnerin des Hauses. Als Jeanne nach dem Zweitschlüssel greifen will, umklammert die Pförtnerin plötzlich ihre Hand und setzt zu einem höllischen Gelächter an. Noch weitaus schockierender für Jeanne ist die Konfrontation mit einer toten Ratte, die Paul in der Wohnung findet und ihr zum Verzehr anbietet. Diese Szene zitiert wiederum die weibliche Studie Bacons, denn auch dort ist im Bildvordergrund, die Silhouet-te einer Ratte auszumachen (vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 140). Der plötzliche Aufschrei Jeannes gleicht dem der Figur.

Am Ende des Vorspanns blendet Bertolucci beide Porträts gleichzeitig ein und verweist im Nebeneinanderstellen dieser zwei Gemälde von Mann und Frau auf das Verhältnis zwischen männlicher und weiblicher Hauptfigur und deren Projektionen im Film. Weltverlorene Figuren finden sich bei Bacon wie bei Bertolucci in Räumen wieder, die von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen zu sein scheinen. Wie Bertolucci die separaten Gemälde nebeneinander setzt, so werden die Hauptdarsteller von Kameramann Vittorio Storaro durch Rahmen, Wände, Türen, Fenster, Spiegel und Räume physisch voneinander getrennt photographiert, wodurch ihre Isoliertheit betont wird. Robert Phillip Kolker sieht gerade hierin eine Parallele zu Bacon:

„The viewer must therefore actively relate the various parts of the divided compo-sition, which are analogous to Bacon´s two- and three-panel canvases in which a figure is seen in different perspectives, or different figures are juxtaposed in an painterly version of cinematic montage. For Bertolucci, the divided frame pro-duces an internal montage, separating and connecting the figures simultaneously.”
(Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 133)

Einen weiteren Hinweis auf Bacon liefern Storaros Kamerabewegungen, die die Verschiebungen und Verzerrungen aufgreifen. Immer wieder werden im Bild etablierte Mittelachsen wie Türen und Wände durch die Kamerafahrt unterlaufen, so dass stabile Blickverhältnisse im Raum verschwimmen (vgl. Karsten Witte: Der späte Manierist. In: Peter W. Jansen / Wolfram Schütte (Hg.): Bernardo Bertolucci. München 1982, S. 57). Storaro visualisiert auf diese Weise das unstete erotische Verhältnis der Figuren zueinander und setzt damit eine zentrale These Georges Bataille filmisch um, die dieser in seinem Werk „Der heilige Eros“ wie folgt formuliert: „In der Erotik geht es immer um die Auflösung schon gebildeter Formen“ (Georges Bataille: Der heilige Eros. Berlin 1979, S. 18). Gerade diesen Auflösungsprozess versucht Storaro auf baconeske Weise einzufangen.

 

Das von Bacon betitelte „Double Portrait of Lucian Freud and Frank Auerbach“ gibt zudem Aufschluss über die Figurenkonstellation in Ultimo tango a Parigi. Denn wie dem Gemälde „Lucian Freuds“ als rechte Hälfte des Diptychons das von „Frank Auerbach“ zugeordnet ist, so werden auch im Film verschiedene Figuren miteinander in Beziehung gebracht. Sie erscheinen sogar als Spiegelungen einer Figur. Solche Persönlichkeitsspaltungen finden sich ebenso bei Paul und Jeanne, denen jeweils Doppelgänger zugeordnet werden können. Pauls Persönlichkeit spiegelt sich einerseits im Liebhaber seiner Frau, Marcel (Massimo Girotti), wider. Als die beiden in der Wohnung Marcels nebeneinander sitzen und über den Charakter Pauls verstorbener Frau Rosa sprechen, tragen sie die gleichen Morgenmäntel, die Rosa für sie gekauft hatte, und favorisieren dieselbe Whiskeymarke. Marcel wird als passive Seite von Paul, als sein bürgerlicher Antipol, etabliert, dessen Hobby es ist, in seinem sauberen Appartement Zeitungsartikel auszuschneiden. Während Paul seine Gefühle in der leeren Wohnung auszuleben versucht, zieht Marcel sich völlig zurück. Als weiteres Fragment von Pauls Persönlichkeitskonstruktion erweist sich Jeannes Freund Tom (Jean-Pierre Léaud). Beide werden Spiegelungen der Form, die sie kreiert. Während der bürgerliche Tom besessen davon ist, sich selbst vor der Kamera zu präsentieren, versucht der Antibürger Paul/Brando der Welt des Kinos zu entfliehen (vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 136f.). Jeanne im weißen Hochzeitskleid findet ihr visuelles Echo in Pauls toter Frau Rosa, die ebenfalls im weißen Kleid aufgebart liegt. Ein weiteres Element, das die beiden weiblichen Figuren miteinander verbindet, sind die Blumen. Die Veilchen, die Jeanne zu Beginn des Films im Hut trägt, rahmen das Totenbett von Rosa (vgl. Karsten Witte. a.a.O., S. 15). Auch in der leeren Wohnung nimmt sie die Rolle von Rosa an, in dem sie deren ritualisierte Hand-lungen vollzieht. Sie geht auf die Toilette, diskutiert über den Standort der Mö-belstücke und telefoniert mit Paul (vgl.: T. Jefferson Kline: Bertolucci´s Dream Loom. Amherst 1987, S. 111).

Einen ebenso entscheidenden Einfluss Bacons ist bei der Farbgestaltung des Films auszumachen. Bertoluccis Farbpalette gleicht der Bacons und reicht von intensivem Orange, kaltem Grau und Weiß, bis hin zu Rottönen, die mit hellen Braun- und Cremetönen kombiniert werden. Bertolucci selbst betont die Bedeutung Bacons für die Farbgebung:

“During the winter in Paris, even during the day, the lights of the stores are on, and there is a very beautiful contrast between the leaden gray of the wintery sky and the warmth of the show windows. In those days there was at the Grand Palais a Francis Bacon show, and the light in the paintings was the mayor source of inspiration for the style we were looking for.”
(zitiert nach: Claretta Micheletti Tonetti. a.a.O., S. 126)

Aus der Farbpalette hervorgehoben wird immer wieder Orange. Auch Bertoluccis Kameramann Storaro betont die zentrale Rolle dieser Farbe für den Film: „I did not have the slightest idea that an orange film could be born. We needed another kind of emotion. […] It was the case of Last Tango” (zitiert nach: Franca Faldini / Goffredo Fodi: Il cinema italiano dóggi. Mailand 1984, S. 145). Orange spiegelt sich in den Fenstern der vorbeifahrenden U-Bahnen, erfüllt die von außen photographierten Innenräume der Pariser Häuser, den Tanzsaal und die leere Wohnung. Wie in den Gemälden Bacons birgt Orange auch bei Bertolucci eine ambivalente Qualität in sich. In dieser Farbe ausgeleuchtete Innenräume werden zu pränatalen, uterusgleichen Orten der Geborgenheit (vgl. Peter Bondanella: Italian Cinema. New York 1991, S. 310). Insbesondere die leere Wohnung wird so zu einem von der Welt hermetisch abgeschlossenen Raum, der die Figuren gleichsam wie ein Körper umhüllt, Wärme spendet und sie vor der kalten, grauen Großstadt schützt. Orange unterstreicht ebenso die erotische Leidenschaftlichkeit der Figuren. Andererseits betonen Bacon wie Bertolucci mit der Farbe Orange den Verfall und nahenden Tod. Orange wird in diesem Kontext zur Farbe der Einsamkeit, der Destruktion, des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit.

Mythische Strukturen

Zu Beginn des Films befinden sich die beiden Hauptfiguren auf einer Brücke in Paris. Die Kamera konzentriert sich zunächst auf Paul, um dann Jeanne zu folgen, die ihn von hinten einholt, kurz zu dem weinenden Paul hinüberblickt und ihn dann passiert. Ihre erste Begegnung bleibt flüchtig und wortlos. In der Totalen ist darauf die Brücke in Gänze sowie die Seine zu sehen. Am Ende der Brücke angelangt, fokussiert die Kamera noch einmal Paul. Die Kamera fährt von der Seite auf den Brückenbogen zu, unter dem sich nun Paul befindet, und verharrt dann in einer zentralperspektivischen Einstellung, sodass die Brücke durch die in die Tiefe gestaffelten Verstrebungen gleichsam zum Tunnel wird. Jeanne läuft auf einen Straßenkehrer zu und überspringt mit kindlicher Leichtigkeit dessen Besen, so als ob sie mühelos ein Hindernis überwunden hätte. In kurzen Einstellungen werden Polizisten aufgenommen, die sich unterhalb der Brücke befinden. Die Brücke wird hier zum Symbol der Passage, der Grenzüberschreitung. Sie stellt den Übergang von einem Zustand in einen anderen dar – von Leben zu Tod. Die Figuren befinden sich auf dem „Quai des Passy“. Der Name verweist sowohl auf den Moment der Passage als auch den Moment des Todes [franz.: trépasser=sterben] (vgl. T. Jefferson Kline. a.a.O., S. 109).

Die nächste Einstellung zeigt Jeanne, die vor einer großen, mit Eisenbeschlägen verzierten Eingangstür in der „Rue de Jules Verne“ steht. Sie schaut zunächst hinauf zu den Wohnungen der oberen Etagen und dann auf ihre Uhr. Es folgt eine Subjektive Pauls, der ebenfalls zu den Obergeschossen des Hauses emporschaut. Der griechischen Mythologie nach musste man den Fluss Styx überqueren, um zu den Toren der Hölle zu gelangen. Bezieht man diesen Mythos auf den Film, so wird die Überquerung der Brücke für die Hauptfiguren zum Übergang vom Reich der Lebenden zum Reich der Toten und die Tür, durch deren Glas orangefarbenes Licht nach außen scheint, zu eben dieser Höllenpforte. Mit dieser Bildsymbolik nimmt Bertolucci bereits das tragische Ende Pauls vorweg, dessen Schicksal schon zu Beginn besiegelt zu sein scheint.

Interessant ist zudem, dass sich die „Rue des Jules Verne“, in der sich das Haus befindet, in Wirklichkeit keineswegs in der Nähe von „Quai des Passy“ befindet. Bertolucci kreiert ein imaginäres Paris und nimmt sich damit Jean Cocteau zum Vorbild. Aus dessen Film Orphée (1950) zitiert Bertolucci die Polizisten, die bei Cocteau die Wächter des Totenreiches repräsentieren. Ein weiter Verweis auf Orphée bildet der Name der Metrostation, Grenelle, in der es zum Streit zwischen Tom und Jeanne kommt. Orpheus steigt an diesem Ort aus seinem Wagen. Ein weiteres Mal zitiert Bertolucci Cocteau, wenn Jeanne auf ihre Uhr blickt. Auch in Orphée hält die Prinzessin, der Orpheus durch Paris folgt, mehrmals inne, um nach ihrer Uhr zu schauen. Auch die Wahl des Straßennamen „Rue de Jules Verne“ ist eng mit dem Orpheus-Mythos verbunden. Verne liefert mit seine Novelle „Le Château de Carapathe“ eine Neuinterpretation dieses Mythos (vgl. T. Jeffer-son Kline. a.a.O., S. 109f.).

Ebenso mythisch verankert ist die Figur der Pförtnerin, der Jeanne in der Eingangshalle begegnet. Der griechischen Mythologie nach werden die Vorhallen zur Hölle von den Eumeniden bewacht, die in Käfigen sitzen. Auch bei Bertoluc-ci findet sich das Moment des Käfigs wieder. Die Pförtnerin reicht Jeanne den Schlüssel durch eine kleine Öffnung in der Glasscheibe, deren zahlreiche Metallverstrebungen betont werden. Durch die Verglasung dringt wiederum orangefarbenes Licht nach außen. Gleich den Eumeniden erschreckt sie den Neuankömmling, indem sie Jeanne für kurze Zeit gefangen hält und mit hysterischem Geläch-ter begrüßt (vgl. T. Jefferson Kline. a.a.O., S. 110).

Während des Gesprächs zwischen Jeanne und der Pförtnerin stellt jemand eine leere Flasche vor die Tür. Lediglich seine Hand ragt aus dem Spalt hervor, bevor die Tür wieder lautlos geschlossen wird. Szenen wie diese betonen die Unwirk-lichkeit des Raumes. An diesem zeitlosen, mythischen Ort scheint es keine realen Personen zu geben. Selbst die Pförtnerin bekommt nichts von der Außenwelt mit (sie gibt an, nichts von einer Wohnungsannonce zu wissen).

Jeanne steigt in einen alten eisernen Aufzug und fährt aufwärts. Bertolucci pervertiert mit diesem Bild nicht nur die christliche Auffahrtsikonographie, sondern visualisiert eine erneute Grenzüberschreitung, die Jeanne mit dem Etagenwechsel vollzieht. Denn die leere Wohnung, die sie dann erreicht, wird in der Folge der Ort, an dem die soziale und sexuelle Grenzüberschreitung realisiert und der von Bataille bezeichnete „heilige Eros“ (vgl. Georges Bataille. a.a.O.) zerstört werden wird. In der Wohnung wird die umhergehende Jeanne einerseits direkt von der Kamera aufgenommen, andererseits indirekt über ihr Spiegelbild. Wie in Cocteaus Orphée wird der Spiegel zum Symbol der Grenzüberschreitung, zur Pforte die zwei Welten bzw. Figurenwelten miteinander verbindet. Bertolucci präsentiert Paul und Jeanne im Spiegel und vereint die Unvereinbaren dort.
Nach dem ersten abrupten Geschlechtsakt fragt Jeanne nach Pauls Namen. Dieser reagiert außer sich vor Wut und formuliert einen regelrechten Gesetzestext, der die Bedingungen für ihr Zusammensein absteckt. Paul untersagt jede Form von Identität und verlangt von ihr, ihren Namen, ihre Vergangenheit und alles andere zu vergessen. Mit diesem absoluten Diktat verweist Bertolucci auf den Befehl, den Orpheus von den Göttern erhalten hat. Will er Eurydike wiedersehen, so darf er sich nicht nach ihr umschauen. Wie Orpheus bricht Paul die aufgestellte Regel. Er ist es, der Jeanne später nach ihrer Vergangenheit fragt, seine eigene Identität preisgibt und am Ende des Films die Brücke in entgegengesetzter Richtung überquert. In dem Augenblick, in dem Jeanne ihren Namen ausspricht, erschießt sie ihn. Sie trifft ihn im Genitalbereich und seine letzten Worten lauten „Our children!“, bevor er auf dem Balkon zu Boden sinkt und in fötaler Haltung stirbt. Auch Jeannes Tötungsakt verweist auf den Orpheus-Mythos. Denn als Orpheus Eurydike erblickt, verwandelt sie sich in Mänade, die ihn zur Strafe kastriert (vgl. T. Jefferson Kline. a.a.O., S. 112).

Bertolucci bedient sich des Orpheus-Mythos, um deutlich zu machen, dass jeder Versuch Pauls, aus der realen Welt auszubrechen, zum Scheitern verurteilt ist. Jede Form der Grenzüberschreitung bleibt letztlich vergebens. T. Jefferson Kline geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter und vergleicht das Kino selbst mit diesem Mythos:

„Through the voyage enacted in this film, we may better understand the degree to which cinema itself is an Orphic experience: to descend into the darkness of a protracted space in an effort to retrieve through images a lost origin.“
(zitiert nach: David Thompson: a.a.O., S. 58)

 

Erotik der Grenzüberschreitung

Bertolucci etabliert mit der leeren Wohnung einen Ort der Anonymität, an dem sexuelle Phantasien außerhalb der sozialen Realität ausgelebt werden können. Bertolucci geht es jedoch nicht darum, diesen Raum dafür zu nutzen, den Zuschauer über die Bilder auf einer erotischen Ebene zu verführen. Denn trotz aller Drastik der Darstellung verzichtet Bertolucci auf explizite Aufnahmen primärer Geschlechtsorgane oder anderer nackter Körperregionen, durch die der Zuschauer stimuliert werden könnte. Vielmehr vollzieht sich Bertoluccis Verführungsstrategie auf einer intellektuellen Ebene. In Ultimo tango a Parigi etabliert er ein Modell einer grenzüberschreitenden Erotik, die sich gegen die kulturellen Konventionen des Bürgerlichen richtet. Bertolucci setzt damit Marcuses „theory of liberation“ filmisch um. Marcuse sieht in der Phantasie und Utopie „the possibility of a non-repressive development of the libido under the conditions of mature civilization“ (Herbert Marcuse: Eros and Civilization: A Philosophical Inquiry into Freud. Boston 1955, S. 47).

Gerade durch die von Paul geforderte Negation von Identität wird der Geschlechtsakt zum transgressiven, existenziellen Ereignis. Durch den Verzicht auf verbale Kommunikation wird eine Verführung über die Sprache außer Kraft gesetzt. Kulturelle Normen und moralische Schranken werden auf diese Weise niedergerissen. Der Körper selbst wird in den Mittelpunkt gerückt und das unmittel-bare körperliche Begehren betont (vgl. Dietrich Kuhlbrodt. a.a.O. S. 162f.).

Doch das von Bertolucci vorgestellte erotische Modell bleibt eine Utopie, die zum Scheitern verurteilt ist. Als Jeanne später in der Liebeswohnung von ihrem Vater erzählt und auch Paul von seinen Eltern berichtet, wird die Autarkie ihrer Beziehung und des Ortes nach und nach aufgebrochen. Beide transportieren über ihre Erzählungen ein Stück der Außenwelt, ein Stück bourgeoiser Wirklichkeit mit allen Konventionen und Beschränkungen in den zuvor hermetisch abgeriegelten Raum. Bertolucci visualisiert dieses Durchbrechen von Realität über die Lichtinszenierung. Das Tageslicht dringt horizontal in den Raum ein, die Schatten der Jalousien und Vorhänge werden an die Wand geworfen. „Queres Tageslicht also liegt auf dem Arsch der Schneider“ (Dietrich Kuhlbrodt. a.a.O., S. 164), als Jeanne vor dem sie beobachtenden Paul masturbiert, sich auf dem Boden hin und her wälzt und schließlich eine fötale Haltung einnimmt. Ihn trifft die Grausamkeit der Körpersprache: er hat ebenfalls eine fötale Position eingenommen und weint, während er sich einen kaputten Lampenschirm vor das Gesicht hält, dessen Form und Farbe der Lampe in der Wohnung seiner Frau ähnlich sind. Jeannes Selbstbefriedigung symbolisiert das Scheitern ihrer Beziehung, seines Konzeptes. Jeanne befreit sich durch den Akt der Onanie von Pauls Diktat und kehrt damit in ihre bourgeoise Welt, die eng mit Tom verbunden ist, zurück. Die Tränen, die über Pauls Wange rollen, sind das bittere Eingeständnis für die somit vollzogene erotische Trennung. Bertolucci selbst interpretiert diese Szene wie folgt:

„He cries because at that moment he is sincere about himself, he sees that he is trying to find in sex a lost innocence – above all, to find through sex an ideal relationship. At that moment, he understands that this is impossible.”
(zitiert nach: Guy Flatley: Bertolucci is All Tangoes Out. In: The New York Times. 11. Februar 1973)

Die Einsamkeit der Figuren und ihre Negation einer geistigen Dimension in ihrer Beziehung finden einen visuellen Ausdruck in dem mit weißen Tüchern verhüllten Gegenstand. Beim ersten Aufeinandertreffen der beiden in der leeren Wohnung hebt Paul kurz die weiße Decke an, ohne jedoch den Inhalt unter ihr zu lüf-ten. Das Objekt wird so zu einem kuriosen Geheimnis, ebenso wie Paul, der seine Identität verbirgt. Jeanne ist es, die bei ihrem letzten, alleinigen Besuch in der Wohnung die Decke entfernt und einige wertlose Holzstücke und Reste einer alten Tür aufdeckt. Sie symbolisieren Pauls inneren Zustand der Zerbrochenheit und geben gleichzeitig einen Hinweis auf das Ende ihrer Beziehung, das Schei-tern seines Konzeptes, das baldige Ende seines Lebens. Jean Baudrillard schreibt über das Geheimnis:

„Das Geheimnis. Verführerische, initiatorische Qualität dessen, was nicht gesagt werden kann, weil es keinen Sinn hat, dessen, was nicht gesagt wird, obgleich es zirkuliert. So kenne ich das Geheimnis des anderen, sage es aber nicht, und dieser wiederum weiß, daß ich es weiß, lüftet jedoch nicht den Schleier: die Intensität, die zwischen beiden herrscht, ist nichts anderes als dieses Geheimnis um das Ge-heimnis.“
(Jean Baudrillard: Von der Verführung. München 1992, S. 110)

Gerade im Akt des Aufdeckens wird die Qualität des Geheimnisses um das weiße Objekt zerstört. Pauls Verführungskraft, die gerade von der Verschleierung seiner Identität ausging, hat nun für Jeanne jede Wirkung verloren.

Die Idee der sexuellen Grenzüberschreitung findet bei Bertolucci auf vielfältige Weise statt. Im Mittelpunkt stehen Sadomasochismus, Analverkehr, Vergewaltigung, Masturbation und Andeutungen des Inzests.

Bereits beim ersten Aufeinandertreffen der beiden Figuren im leeren Appartement liefert Bertolucci Hinweise auf ein inzestuöses Verhältnis. Jeanne wird plötzlich von Pauls erotischer Obsession ergriffen. Nahe der geschlossenen Jalousie findet der erste Geschlechtsakt statt. Wie ein Kind umklammert sie mit Armen und Beinen den Körper Pauls. Durch den enormen Altersunterschied wird die Assoziation von Vater und Tochter zusätzlich verstärkt. Ihre Körper bleiben von der Kleidung verhüllt. Der Beischlaf würde geradezu theoretisch und simuliert anmuten, wenn der Zuschauer nicht zuvor dem Toilettengang von Jeanne entnehmen könnte, dass sie keine Unterwäsche trägt. Im Laufe des Films wird Paul mehr und mehr zum Vaterersatz für Jeanne. Wie ein kleines Mädchen lässt sie sich in der Badewanne von Paul mit einem Waschlappen säubern. Am Schluss des Films macht Bertolucci noch einmal die Bedeutung des Inzests klar. Jeanne erschießt Paul genau in dem Augenblick, in dem er den Offiziers-Képi ihres Vaters trägt. Jeanne tötet somit nicht nur Paul, sondern auch die Imago ihres Vaters und überwindet damit das angedeutete inzestuöse Verhältnis zwischen Vater und Tochter (vgl. Karsten Witte. a.a.O., S. 35).

Vielmehr noch als der Inzest wird die Bedeutung des Analverkehrs bei der sexuellen Grenzüberschreitung betont. Beim dritten Treffen in der Wohnung befiehlt Paul Jeanne, Butter aus der Küche zu holen, die dieser als Gleitmittel bei der fol-genden analen Penetrierung Jeannes benutzt. Paul zerrt Jeanne zu sich, vergewaltigt sie und zwingt sie, seine Flüche auf die Institutionen Familie und Kirche zu wiederholen. Auch in dieser Szene geht es Bertolucci darum, den Zuschauer auf intellektueller Ebene zu verführen und nicht auf erotische Weise. Zusammen mit Pauls Geschichte über seine von Kuhexkrementen beschmutzten Schuhe etabliert er eine bäuerliche Ebene, die dazu dient, die sakramentale Qualität von Erotik zu durchbrechen. Die anale 'Vergewaltigung' richtet sich nicht in erster Linie auf die Demütigung von Jeanne, sondern vielmehr gegen den der Figur innenwohnenden bourgeoisen Hintergrund. Paul mutiert zur dämonischen Parodie des unterdrückenden Vaters, der phallischen Autorität (vgl. Yosefa Loshitzky: The Radical Faces of Godard and Bertolucci. Detroit 1995, S. 76). Die anale Penetrierung wird so zum revolutionären Akt eines Antibürgers gegen das kapitalistische System, deren gesellschaftliche Institutionen, wie die bourgeoise Familie und Kirche, von Paul und darauf von Jeanne verflucht werden:

„Holy family ... Where the will is broken by repression … Where freedom is as-sassinated … You fucking fucking family! … You fucking family! Oh God, Jesus!”
(englische Originalfassung)

Jean Baudrillard weist in seinem Werk „Von der Verführung“ auf die Folgen des Kapitalismus für die Sexualität hin: „[...] das Sexualmodell ist die Erscheinungs-form des Kapitals auf der Ebene des Körpers“ (Jean Baudrillard. a.a.O., S. 59). Gerade in der Analität wird die vom kapitalistischen System geforderte Produktivität der Sexualität unterlaufen und der Lustgewinn am unproduktiven Akt betont. Paul erfährt gerade durch dieses Sakrileg seine Befriedigung.

Ein weiterer analer Akt wird von Jeanne an Paul vollzogen. Er fordert sie auf, ihre Fingernägel zu schneiden, um ihn dann ohne Verletzungsgefahr mit ihren Fingern anal zu befriedigen. Wiederum wird die Szene von Pauls perversen Sodomie-Obsessionen begleitet, die die sadomasochistische Qualität ihrer Sexualität betonen. Folgt man dem traditionellen patriarchalen Modell Freuds, wonach der Sadismus dem Maskulinen und der Masochismus dem Femininen zugeordnet wird (vgl. Yosefa Loshitzky. a.a.O., S. 74), so pervertiert Paul diese Zuschrei-bungen, indem er seine phallische, männliche, sadistische Macht an Jeanne über-gibt und selbst die ansonsten weibliche, masochistische Rolle der Penetrierten einnimmt. Anderseits besetzt er auf verbaler Ebene wiederum die Rolle des Sadisten, wenn er Jeanne zur grenzenlosen Hingabe auffordert. Eine klare Rollenzuschreibung ist somit nicht mehr möglich. Bertolucci löst das binäre Zuordnungssystem auf und bringt die Begriffe von Sadismus und Masochismus in Fluss, indem er ihre Gleichzeitigkeit im Maskulinen wie Femininen praktizieren lässt.
Insbesondere Marcuse begrüßt die Praktizierung solcher sexuellen Praktiken. Er sieht sie als integralen Bestandteil eines utopischen Prozesses der Re-Erotisierung von Mensch und Kultur an, der in der Begründung von libidinösen Beziehungen münden soll, um so den Prozess der Zivilisation zu ersetzen, der aus dem Körper und dem Organismus ein Arbeits- und Ausbeutungsinstrument gemacht hat. „[...] the perversions uphold sexuality as an end in itself“ (Herbert Marcuse. a.a.O., S. 50). Gerade Tom verkörpert diese kapitalistische Gesellschaft, wenn er Jeannes Körper für seinen Film ausbeutet und sie mit der Kamera geradezu penetriert.

Der beim Verkehr von Jeanne und Paul zu beobachtende Rückzug zum Animalischen wird auch durch die von beiden geprobte neue Form der Kommunikation hervorgehoben. „Ich komme besser weg mit Stöhnen und Grunzen als mit Namen“ (vgl. deutsche Synchronfassung), formuliert Paul auf dem Bett und Jeanne stimmt mit tierischem Gackern und Geschnatter ein. So werden sprachliche Tabus einer bourgeoisen Gesellschaft außer Kraft gesetzt und das Triebhafte, Wilde ihrer erotischen Leidenschaft hervorgehoben. Die Beziehung zwischen beiden Figuren ist rein körperlicher Natur, physisch erfüllend, geistig jedoch nicht. Beide versuchen die Intensität der Begierde und die Realität des Körpers, fern jeglicher gesellschaftlicher Normen, zurückzugewinnen. Die praktizierte Sexualität kommt dem Versuch gleich, den biblischen Sündenfall im Garten Eden ungeschehen zu machen und einen paradiesischen Zustand auf Erden herzustellen.

Bertoluccis Figuren folgen ihrem Wunsch nach Regression, auf der verzweifelten Suche nach Identität, die ihnen abhanden gekommen zu sein scheint. Georges Bataille ersetzt den Wunsch nach Identität mit dem Begriff der Kontinuität:

"Wir sind diskontinuierliche Wesen, Individuen, die getrennt voneinander in ei-nem unbegreiflichen Abenteuer sterben, aber wir haben Sehnsucht nach der ver-lorenen Kontinuität. Die Situation, die uns an eine Zufalls-Individualität, an unsere vergängliche Individualität fesselt, ertragen wir nur schlecht. Zur gleichen Zeit, da wir das geängstigte Verlangen nach der Dauer dieses Vergänglichen hegen, sind wir von dem Gedanken an eine ursprüngliche Kontinuität besessen, die uns allgemein mit dem Sein verbindet.“
(Georges Bataille. a.a.O., S. 14)

Für den Moment der sexuellen Grenzüberschreitung heben Jeanne und Paul das Zeit-Raum-Gefüge auf und stellen einen Augenblick der Kontinuität her, der jedoch erst im Tod Pauls seine Vollendung findet.

Abschließend soll hier noch einmal auf die Interpretation Bernd Kiefers hinge-wiesen werden, der die Befunde zusammenfassend dargestellt hat:

„Bertolucci wollte schockieren, und er wußte, wodurch sich die bürgerliche Kul-tur, die die „sexuelle Revolution“ (Wilhelm Reich) integriert hatte, noch scho-ckieren ließ: durch die Darstellung kruder, emotional, ja personal abgelöster Sexualität. Das Sakrale, die transzendierende Kraft, ist dem Sexus genommen worden; es bleibt das wahnsinnig-verzweifelte Suchen nach dem Körper, dem eigenen und dem des Partners, in einer fremd gewordenen Welt.“
(Bernd Kiefer: Bernardo Bertolucci. In Thomas Koebner (Hg.): Filmregisseure. Stuttgart 1999, S. 67)

Der Tango

Vor dem tragischen Ende treffen Jeanne und Paul ein letztes Mal in einem großen Tanzsaal zusammen, in dem gerade ein Tango-Wettbewerb veranstaltet wird. Unter sternengleichen Lampenkugeln, die von der Decke herabhängen, tanzen korrekt frisierte und gekleidete Paare fortgeschrittenen Alters völlig steif und ohne eine emotionale Regung zu zeigen. Die Kamera folgt ihren mechanischen Schritten am Boden entlang und betont so ihre Absurdität. Nach dem Ende des Liedes verharren die Paare regungslos in ihrer Position und erstarren förmlich zu leblosen Schaufensterpuppen. Abseits der dekadenten Tanzgesellschaft sitzen Jeanne und Paul an einem Tisch, angelehnt an den großen Spiegel im Hintergrund, der ihre Gesichter widerspiegelt. Er redet von der romantischen Liebe, sie will zurückkehren in ihre bürgerliche Welt. Völlig betrunken stürzen sich Paul und Jeanne dann in diese bourgeoise Ordnung. Er versucht sie, wie ein Vater sei-ne kleine Tochter, huckepack zu nehmen. Doch sie sinkt langsam zu Boden und wird von ihm bis zur Mitte der Tanzfläche geschleift, wo die von der Jury ausgewählten Paare völlig unbeeindruckt vom betrunkenen Paar ihren letzten Tango im Wettbewerb tanzen. Im Gegensatz zu den disziplinierten, einstudierten Tanzfiguren, bewegen sich Jeanne und Paul völlig spontan und frei von Reglementierungen zur Musik. Ihre parodistische Performance gleicht einem „Danse macabre“ (vgl. Bernd Kiefer: Der letzte Tango in Paris. In: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker. Stuttgart 2001. Band 3, S. 282). Ihre Bewegungen wirken abstrakt und künstlich, als seien sie dem avantgardistischen Tanztheater entlehnt. Wie ein Sterbender lässt er sich zu Boden fallen – eine Ankündigung seines bevorstehen-des Todes – und wird von ihr wieder aufgerichtet. Eng umschlungen drehen sie sich darauf um die eigene Achse und küssen sich hemmungslos vor der Tanzjury, deren hysterische Vorsitzende versucht, die beiden auseinander zu bringen und von der Tanzfläche zu entfernen. Paul greift sich diese, dreht sie herum und nimmt die wild um sich Schlagende wie eine Braut auf den Arm. Beim Abgang von der Tanzfläche präsentiert er sein entblößtes Hinterteil.

Noch einmal manifestiert sich in den tanzenden Paaren die bourgeoise Gesell-schaft, deren erstarrtes Regel- und Normensystem von Bertoluccis Figuren auf revolutionäre Weise durchbrochen wird. Tango wird hier zum Indikator für den Zustand einer Gesellschaft. Karsten Witte konstatiert:

„Tango als Chiffre der Morbidezza und der Dekadenz, Paris als Chiffre existen-tieller Sehnsucht. Der Todeskampf in artistischer Form, als grotesker Wettbewerb alternder Paare, dessen Form Marlon Brando und Maria Schneider flagrant ver-letzen. Tango als höhnischer Verweis und Todesmetapher.“
(Karsten Witte. a.a.O., S. 21)

Bertoluccis zu Puppen erstarrten Tangopaare visualisieren eine moderne Gesellschaft, die zur produktiven Maschine verkommen ist. Gefangen in einem dichten Regel- und Normenwerk, treten diese völlig ignorant ihrer Umwelt gegenüber und sind gekennzeichnet durch emotionale Blindheit.

„Von einem seiner Dichter beschrieben als ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann. In Europa bis zur Lächerlichkeit entstellt, verflacht, sentimalisiert.“
(Raimund Hoghe / Ulli Weiss: Bandoneon – für was kann Tango alles gut sein? Darmstadt 1981, S. 15)

So beschreibt Raimund Hoghe den Zustand dieser Tanzform Anfang der 80er Jahre. Der Tango ist seiner erotischen Qualität beraubt worden und Leidenschaft durch Sterilität ersetzt worden. Gerade mit ihrer spontanen, regelwidrigen Per-formance durchbrechen Paul und Jeanne diese sinnentlehrte Oberflächlichkeit. Wie bereits auf erotischer Ebene steht auch hier die Grenzüberschreitung im Mittelpunkt, auf der Suche nach Freiheit und Sinn.

Fazit

Alle hier erarbeiteten Ebenen des Films machen deutlich, dass es sich bei Ultimo tango a Parigi keineswegs um einen erotischen Film im engeren Sinne handelt. Nie bieten die Figuren Bertoluccis eine Fläche für erotische Stimulation. Erotische Handlungen werden zwar mit enormer Intensität dargestellt, aber stets simu-liert. Dem Regisseur geht es vielmehr darum ein theoretisches Modell von Erotik zu kreieren, um Kritik an der modernen Gesellschaft zu üben.

Bertolucci zeichnet in Ultimo tango a Parigi ein äußerst pessimistisches Gesellschaftsbild. Seine Figuren, die in der modernen Gesellschaft existieren müssen, sind zu deformierten, schmerzerfüllten Kreaturen verkommen, auf der Suche nach Freiheit und Identität. Wie die Welt in den Gemälden Bacons, ist Bertoluccis Realität gekennzeichnet durch totale Hoffnungslosigkeit. Insbesondere wird dies über die mythische Struktur des Films deutlich gemacht. Das Schicksal des orpheus-gleichen Pauls ist schon zu Beginn des Films besiegelt. Jedes Aufbäumen gegen sein Verderben ist vergebens, jeder Versuch, gegen die bourgeoise Welt zu opponieren, zum Scheitern verurteilt. So wird am Ende der letzte Tango zum Abgesang auf die moderne Gesellschaft. Jeder Funke Hoffnung, in der Grenzüberschreitung, der Negation gesellschaftlicher Normen eine identitätsstiftende Qualität zu entdecken, wird ausgelöscht. Bertolucci hinterlässt mit Ultimo tango a Parigi einen Scherbenhaufen, eine apokalyptische Vision.

Literatur

Bataille, Georges: Der heilige Eros. Berlin 1979.
Baudrillard, Jean: Von der Verführung. München 1992.
Bondanella, Peter: Italian Cinema. New York 1991.
Faldini, Franca / Fodi, Goffredo: Il cinema italiano dóggi. Mailand 1984.
Flatley, Guy: Bertolucci is All Tangoes Out. In: The New York Times. 11. Febru-ar 1973.
Hoghe, Raimund / Weiss, Ulli: Bandoneon – für was kann Tango alles gut sein? Darmstadt 1981.
Kael, Pauline: Last Tango in Paris. In: The New Yorker 47, Nr. 10 (Oktober 1972), S. 130-133.
Kiefer, Bernd: Der letzte Tango in Paris. In: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassi-ker. Stuttgart 2001. Band 3, S. 282-286.
Kiefer, Bernd: Bernardo Bertolucci. In: Koebner, Thomas (Hg.): Filmregisseure. Stuttgart 1999, S. 64-69.
Kline, T. Jefferson: Bertolucci´s Dream Loom. Amherst 1987.
Kolker, Robert Phillip: Bernardo Bertolucci. London 1985.
Kuhlbrodt, Dietrich: L´ultimo tango a Parigi. In: Jansen, Peter W. / Schütte, Wolf-ram (Hg.): Bernardo Bertolucci. Reihe Film 24. München 1982, S. 158-170.
Loshitzky, Yosefa: The Radical Faces of Godard and Bertolucci. Detroit 1995.
Marcuse, Herbert: Eros and Civilization: A Philosophical Inquiry into Freud. Boston 1955.
Stiglegger, Marcus: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film, Berlin 2006.

Thompson, David: Last Tango in Paris. London 1998.
Tonetti, Claretta Micheletti: Bernardo Bertolucci. The Cinema of Ambiguity. New York 1995.
Witte, Karsten: Der späte Manierist. In: Jansen, Peter W. / Schütte, Wolfram (Hg.): Bernardo Bertolucci. Reihe Film 24. München 1982, S. 7-66.