Autorentheorie des Films IV
Nils Ehring

Dumont und Noé: Der Angriff auf die moderne Verschleierung

Zwei philosophische Filmemacher aus Frankreich

 

I. Einleitung

„Die Gesellschaft kriegt immer die Filme, die sie verdient – wir sind nun mal so schlimm und deswegen gibt es diese Streifen, nicht umgekehrt. Im Zeitalter dieses Mediums sind sie auch immer ein Spiegel der Gesellschaft.“

Die französischen Künstler, seien es Autoren oder Filmemacher, werfen bereits seit geraumer Zeit einen sehr pessimistischen Blick auf das Individuum und die Gesellschaft. Von den beiden Schriftstellern Michel Houellebecq und Frederic Beigbeder, bis hin zu den Regisseuren Gaspar Noe und Bruno Dumont. Sie alle betrachten den Menschen als ein triebgesteuertes und vereinsamtes Wesen der Moderne. Es scheint als habe die Zivilisation einen enormen Schritt nach vorn gemacht, gerade in technischer und wissenschaftlicher Hinsicht. Das Individuum dagegen ist dabei auf der Strecke geblieben, es plagt sich immer noch mit denselben Dingen ab, gegen die es schon vor hunderten von Jahren ankämpfte.

Die Suche nach Liebe und Zuneigung, die Kontrolle des eigenen sexuellen Triebes in einer Gesellschaft, welche Sex als vollkommen liberalisiert betrachtet und ihn dennoch tabuisiert; die damit verbundene Vereinsamung des Menschen, aus der die Pornoindustrie Millionen scheffelt; die unkontrollierbaren Gewaltexplosionen des menschlichen Wesens – all diese Themen finden Anklang in den Filmen von Gaspar Noe und Bruno Dumont. Es sind extrem zeitgenössische Werke, welche der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Gerade in Deutschland genießen diese beiden Filmemacher leider nur ein geringes Ansehen. Häufig werden ihre Filme als Skandale betitelt, eine Schublade aus der sie nur schwer wieder herausfinden. Damit scheinen sie eher für einen sensationsgeilen Markt geschaffen, als für eine ernsthafte Auseinandersetzung. Ein Grund mehr die filmischen Werke der beiden Regisseure einmal genauer zu betrachten und Licht ins Dunkel zu bringen.

Im ersten Teil werde ich mich mit Noes letztem Film Irreversible beschäftigen. Dabei wird das Hauptaugenmerk besonders auf die Erzählstrategie und die visuelle Ästhetik des Werks gerichtet sein. Außerdem werde ich die Gewaltdarstellung innerhalb der Erzählung analysieren.

Der zweite Abschnitt beleuchtet Dumonts vorletzten Spielfilm L´Humanite. Hier werde ich mich besonders mit der Herangehensweise des Regisseurs an das Medium Film auseinandersetzen. Desweiteren wird dieser Teil der Arbeit den hohen Stellenwert beschreiben, den der menschliche Körper für den Filmemacher einnimmt. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einer Betrachtung der Sexualität innerhalb des Films und einem Fazit.

 

II. Irreversible

Ist der Mensch ein wildes Tier?

„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist.“

Die Filme des französischen Regisseurs Gaspar Noe gewähren einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele und ihres Handelns. Seien es die pädophilen Gedankenwelten des Metzgers aus Seul contre tous oder die albtraumhaften Gewaltexzesse, welche die drei Hauptfiguren seines letzten Werkes Irreversible durch- und ausleben. Schopenhauer beschreibt den Menschen in seinen Texten als ein „wildes Tier“, der Homo Sapiens wird mit dieser Aussage entmenschlicht und sein Handeln wird sogar unter die tierischen Handlungen gestellt: „der Mensch ist das einzige Tier, welches anderen Schmerz verursacht, ohne weiteren Zweck als eben diesen. Die anderen Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes.“

Diese These Schopenhauers durchstreift Noes Werke. Sein Film Irreversible ist drastisch, konsequent und schonungslos in seiner Darstellung von Gewalt und Sexualität. Kubrick inszenierte sein futuristisches Werk über die Sinnlosigkeit und Dumpfheit von Gewalt Clockwork Orange auf eine stilistisch kühle und glatte Art und Weise. Bei Noe pulsiert die Leinwand regelrecht, sie bebt vor lauter Bildern und Eindrücken, Gewalt wird dem Zuschauer als etwas Unausweichliches dargeboten. Dabei ist sein Werk weit entfernt von der Ästhetik des gängigen Splatterfilms, diesem Subgenre des Horrorfilms, das gerade in den letzten Jahren wieder mehr Produktionen aufzuweisen hat. Die Gewalt wird in all ihrer Grausamkeit dargestellt und nicht in einem übernatürlichen Plot verankert, sie ist Teil der Alltagswelt der Protagonisten. Es sind Menschen, die Menschen verletzen und töten.

Die Gewaltexplosion zu Beginn des Films, also eigentlich am Ende der Erzählung, erscheint dem Betrachter vollkommen unmotiviert und nicht plausibel. Somit kann Irreversible, wenn überhaupt, nur mit dem Serienmörderfilm Henry_- Portrait of a Serial Killer von John Mc Naughton verglichen werden, dessen düstere und erschütternde Darstellung eines Serienkillers in der Präsentation von Gewalt ähnlich schonungslos und drastisch ist. Auch hier sind die Taten unmotiviert und auf den ersten Blick für den Betrachter nicht gerechtfertigt.

 

Erzählstrategie und visuelle Ästhetik

Die Handlung von Irreversible ist nicht chronologisch aufgebaut, der Film rollt sich von hinten auf. So wird am Anfang das eigentliche Ende der Erzählung und der rauschartigen Nacht präsentiert, welche die Protagonisten durchleben. Die einzelnen Taten und Handlungsweisen der Figuren entblättern und erklären sich somit erst im weiteren Fortschreiten des Films.

Alles beginnt mit einer verstörenden Kamerafahrt. Ähnlich der Exposition seines vorherigen Werks Seul contre tous, führt der Regisseur Charaktere ein, die für den weiteren Verlauf des Geschehens keine wichtige Rolle spielen. Einer von vielen Verstörungsmomenten, die Noe immer wieder einstreut. Die Kamera schwebt durch den Raum, erforscht Strukturen auf Wänden und Körpern. Wir begegnen der Hauptfigur aus Seul contre tous, dem Metzger, gespielt von Phillipe Nahon. Er unterhält sich mit einem Freund über die Beziehung zu seiner Tochter. Plötzlich fliegt die Kamera rotierend aus dem Fenster und führt uns an den nächsten Schauplatz, den Schwulenclub mit dem Namen Rectum.

Die etwa zehnminütige Szene in diesem Club endet in einer Gewaltorgie. Die folgenden Sequenzen verdeutlichen, warum es dazu kam. Marcus, seine Freundin Alex, und Pierre sind gemeinsam auf eine Party gegangen. Es kommt zum Streit des Pärchens, Alex verlässt die Party und wird in einer Unterführung vergewaltigt. Dadurch erklärt sich das aggressive Verhalten von Marcus zu Beginn des Films. Der Zuschauer wird nun weiter in die Vergangenheit geschleudert. Wir erleben wie die Gruppe sich zur Party begibt und in welcher Relation die drei Figuren zueinander stehen. Irreversible endet mit dem Beginn des Tages, an dem sich Marcus und Alex liebkosend auf dem Bett befinden. Alex bemerkt dass sie schwanger ist. Die letzte Einstellung zeigt sie auf einer Wiese liegend.

Der visuelle Stil in der Schwulenclubszene ist exemplarisch für die erste Hälfte des Films. Bis zur Vergewaltigungssequenz bewegt die Kamera sich vollkommen frei, sie fliegt schwindelerregend durch den Raum. Erst von da an wird der Kamerablick ruhiger. Die Kamera beobachtet also nicht nur das Geschehen, sie spiegelt auch die Emotionen der Charaktere wider. Die Geschehnisse zu Beginn des Tages und beim Besuch der Party werden in ruhigen langen Plansequenzen eingefangen. Diese extreme Dehnung der Sequenzen und der filmischen Narration lässt die Zeit als einen stetigen Fluss erscheinen, als etwas Unaufhaltsames und Unberechenbares. Die im Uhrzeigersinn immer schneller rotierende Kamera am Ende des Films weist ebenfalls auf diese Interpretation der Zeit als destruktive Einheit hin.

Die Rotation der Kamera und die sonderbaren ständig auftretenden Geräusche auf der Tonebene verstärken die enorme Verwirrung, die der Film evoziert. Bis zum Ende traktiert der Regisseur den Betrachter auf diese unkonventionelle Art, er reißt ihn in die Ereignisse hinein. Der orgiastische Kamerablick auf die Schwulenclubszene kommt einer Fahrt in Dantes trichterförmige Hölle gleich. Immer tiefer steigen Pierre und Marcus in die Abgründe menschlicher Perversitäten hinab. Dem Zuschauer werden nur einzelne Fragmente der Geschehnisse im Club präsentiert.

Als Marcus glaubt den wahren Täter entdeckt zu haben, beginnt der Gewalt- akt. Diese Szene ist spürbar wie ein Tritt in die Weichteile. Als Pierre zu Hilfe eilt und immer wieder mit dem Feuerlöscher auf das Gesicht des angeblichen Täters einschlägt ist man der Gewalt vollends ausgeliefert, genauso wie das Opfer. Eine Distanz zum Dargebotenen soll sich hier auf keinen Fall einstellen. Noe hätte dies zum Beispiel mit fetziger Musik oder schnellen Schnitten erwirken können, wie man es aus Blockbustern des Actionkinos kennt. Stattdessen bietet er keinen Fluchtpunkt, besonders durch das Hin- und Herschwenken der Kamera zwischen Täter und Opfer. Gewalt wird hier nicht aus der Distanz betrachtet, sie trifft uns wie im Alltag. Als etwas, das uns lähmt und schockiert, uns angeekelt und dennoch hypnotisiert hinterlässt. Die Tatsache, dass erst bei der Vergewaltigungssequenz eine Distanz zu den Ereignissen gewahrt wird, spricht für den Film. Es wäre ethisch und moralisch höchst fraglich die Sequenz nah und dicht an den Charakteren, oder „als eine raffiniert ausgeleuchtete Fleischbeschau in Werbeclip-Ästhetik und Montagegewitter“ zu inszenieren.
Noe hat mit seinem Film Irreversible etwas Unausweichliches geschaffen. Ein Kinobesuch wird bei diesem Werk zu einer grausamen Erfahrung, zu einer unerbittlichen Reise in menschliche Abgründe. Bewusst manipuliert der Regisseur den Zuschauer und dessen Sehgewohnheiten, um ihn mit existentiellen Aussagen, wie: „Die Zeit zerstört alles“, zu konfrontieren. Diese Statements, den Aphorismen Ciorans ähnlich, werden eingebettet in den filmischen Kontext und untermauern die Geschehnisse.

 

Irrversible ist nicht nur visuell sondern auch akustisch ein vollkommen unkonventionelles Werk. Einem Albtraum gleich, zieht der Film den Betrachter immer tiefer in ein Loch ohne Boden hinein. Noe ist mit seiner Arbeit weit entfernt vom gängigen Erzählkino. Ziel ist es nicht zu unterhalten, sondern zum Erleben und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen. Seit Aronofskys Requiem for a Dream hat es einen solchen Film nicht mehr gegeben, auch hier wurde ein Kinobesuch sowohl zu einer psychischen als auch physischen Erfahrung. In einer Zeit in der immer mehr überflüssiges den Filmmarkt überflutet, sind Filme wie Irreversible von entscheidender Bedeutung. Nur solche Werke besitzen die Fähigkeit, das narkotisierte Kinopublikum aus der „feel-good Lethargie“ zu reißen.

 

III. L´Humanite

Die stille Menschlichkeit

Dumonts Film L`Humanite steht in starkem Gegensatz zum vorher behandelten Irreversible. Während Noe vor allem auf der visuellen Ebene sehr radikal vorgeht, beschreitet dieser französische Regisseur einen eher ruhigen Pfad. Um seine Herangehensweise an das Medium Film zu verstehen, sollte zuerst ein Blick auf seinen Werdegang geworfen werden.
Bruno Dumont wurde 1958 in Bailleul geboren. Nachdem er mehrfach an den Filmschulen Frankreichs abgelehnt worden war, begann er Philosophie zu unterrichten und drehte Werbefilme für lokale Firmen. In einem Interview beschreibt er die Herstellung dieser Filme:

„I had the Camera go inside the chocolate machine, which brought me one of my first emotions through film. It was beautiful to see chocolate fall down and I managed to amplify this and create emotion in the machines. I learnt how to make uninteresting things interesting. The way I work today is completely linked to those ten years of filming nothing.”

Diese Aussage beschreibt treffend Dumonts bisherige Werke. Er richtet sein Augenmerk und das des Betrachters auf scheinbar uninteressante Dinge. Dennoch schimmert etwas hindurch, die Menschlichkeit. Seine beiden ersten Filme spielen in einem tristen, spießigen Bauerndorf, ein Ort an dem die Gebäude genauso austauschbar erscheinen wie ihre Bewohner. Dort geschieht jeden Tag dasselbe, die Routine ist das einzige, das die Menschen vor dem Wahnsinn beschützt. Einöde dominiert die Einstellungen seiner Filme. Egal ob nun Menschen im Bild sind oder es sich um Landschaftsaufnahmen handelt.

Es mangelt an Reizen. Gerade in diesem tristen Ambiente seiner Werke lenkt er den Fokus der Kamera auf den Menschen, dessen Körper und die Gefühlsregungen welche dieser mitteilt. Somit lässt er sich mit dem Dramaturg und Autor Botho Strauß vergleichen, der die menschlichen Gesten in seiner Prosa wie ein Seismograph auffängt, detailliert beschreibt und interpretiert. Es sind die kleinen Dinge, die Handlungsweisen zwischen den Wörtern, welche wichtig erscheinen und die Seele des Menschen offenbaren. Um den Zuschauer nicht unnötig von diesen kleinen Dingen abzulenken, bettet der Regisseur seinen Film in einen sehr reduzierten Plot. Der Protagonist Pharaon de Winter lebt allein mit seiner Mutter in einem kleinen Dorf mit dem Namen Bailleul. Als Kommissar bei der Polizei wird er zur Ermittlung eines Falls herangezogen. Ein elfjähriges Mädchen wurde vergewaltigt und ermordet. Über die Vergangenheit der Hauptfigur erfahren wir sehr wenig, nur das er seine Frau und sein Kind verloren hat. Pharaon hat zwei Menschen mit denen er hin und wieder etwas unternimmt, seine Nachbarin Domino und deren Freund Joseph. Den Rest des Tages schlägt er Tod mit Fahrradtouren, der Pflege seines Gartens oder mit Improvisationen auf seinem Keyboard. Natürlich spendet er auch ein wenig seiner Zeit der Ermittlung des Mordfalls. Am Ende des Films ist der Fall gelöst, sein Freund Joseph wird als Täter überführt.

 

Die menschlichen Gesten im Bildkader

Bereits die erste Einstellung ist ein gutes Beispiel für die Optik des Films. Wir erblicken eine riesige Landschaft in Cinemascope. Die Hauptfigur Pharaon läuft als ein kleiner Punkt im Hintergrund durchs Bild. Auf der Tonebene hören wir seinen Atem und seine Schritte, so als würde er direkt an uns vorbeiziehen. Es ist ein Spiel mit Seh- und Hörgewohnheiten, das der Regisseur mit dem Zuschauer treibt. Dumonts Hang zur Körperlichkeit wird hier besonders deutlich. Auch wenn die Akteure weit entfernt sind, wir bleiben dicht an ihnen dran. Ihr Körper teilt uns etwas über ihre Befindlichkeit mit. Die Einstellung nimmt ebenfalls die Relation zwischen Pharaon und der ihn umgebenden Natur vorweg. Der Protagonist wirkt vollkommen verloren, die Landschaft erdrückt ihn. Diese einsame Figur sucht eine Antwort in der Natur doch diese versteht ihn nicht. Sei es Pharaons Blick in den Himmel oder sein Verharren am Boden eines Ackers, immer wieder kehrt er seine Sinne zu Mutter Erde. Der Charakter steht in einer Beziehung zur Natur wie Kierkegaard es in seinem Werk Erbauliche Reden in verschiedenem Geist beschreibt: „Der Einsame in der Natur ist überall von einem Universum umgeben, das ihn nicht versteht, auch wenn es ständig so ist, als müsse es zu einem Verständnis kommen.“

Oft wechselt die Einstellungsgröße von Totalen der Landschaft zu Groß- aufnahmen der Akteure. Dies geschieht auch umgekehrt, gerade dann, wenn Pharaon und Domino in einer Szene auftreten. Die Perspektive springt von einer Großaufnahme der Hauptfigur in eine Totale des Himmels oder eines Ackers, diese suggeriert uns den Blick Pharaons. Die Kamera präsentiert scheinbar belangloses, doch für die Charaktere, speziell für den Protagonisten, bedeuten diese Blicke einen Ausweg, eine Form der Verdrängung. Er be- trachtet lieber den leeren Raum oder scheinbar unwichtige Objekte, als Domino zu fixieren. Statt Emotionen in sich zu wecken und sie zuzulassen, wendet er sich ab.

Es geschieht sehr wenig über Dialoge in diesem Werk. Dumont selbst beschreibt seine Abkehr von dieser Form der Erzählung wie folgt:

„What interests me is life, the people, the small things. Cinema is for the body, the emotions. It needs to be restored among the ordinary people, who don´t speak a lot, but who experience an incredible intensity of joy, emotion, suffering, sympathy in death. They don´t speak, speaking is not important. What´s important is the emotions. It is for the spectator to make these things conscious, it is not for me to do it.”

Die Physiognomie ist es also, die in L´Humanite Geschichten erzählt. Häufig sind die Nahaufnahmen der Darsteller frontal oder von der Seite gefilmt. Dumont lässt sich Zeit die Gefühlsregungen und Reaktionen dieser Menschen zu untersuchen. Es sind nicht nur die Gesichtszüge, welche der Kamerablick uns offenbart, sondern auch andere Körperpartien. Das Vergewaltigungsopfer wird in vier unterschiedlichen Einstellungen präsentiert, in denen der geschundene Leib dem Zuschauer regelrecht ausgeliefert ist. Diese zugegeben brachialen Bilder sprechen mehr als tausend Worte. Der Regisseur konzentriert sich voll und ganz auf die Körper der Akteure und ihre unterschiedlichen Reaktionen, sie bilden den Nukleus seines Films. Sei es nun Domino, die auf das Geschlechtsteil eines Mannes schaut und erregt ist, oder der angespannte Chef von Pharaon, der schwitzt und prustet. Immer sind wir dicht an den Charakteren und lesen in ihnen wie in einem Buch.

 

Sexualität: ein Ausweg?

„Es gibt weder Schicksal noch Treue,
Nur Körper, die einander begehren.
Ohne jede Zuneigung und vor allem ohne Mitleid,
Man spielt und man zerreißt.“

So maschinell und gefühllos wie Michel Houellebecq Sexualität in seinem Gedicht L´Amour, L´Amour beschreibt, stellt Dumont sie auch in seinen Filmen dar. Die Sexszenen zwischen Domino und Joseph sind, wenn auch nicht explizit inszeniert wie in La vie de Jesu, kalt und emotionslos. Der Akt verkommt zu einer unmenschlichten Tat, wird zur Befriedigung eines animalischen und biologischen Triebes. Sexualität scheint in dieser amoralischen und hedonistischen Welt kein Ausweg für die Unglücklichen zu sein. Sie bedeutet nicht mehr als einen weiteren Kick, eine kurze Unterbrechung der Qualen und der Einsamkeit.
Als Pharaon das Paar beim Sex beobachtet, lässt sich von seinem Gesicht ablesen, dass er darin nichts Schönes oder Erhabenes erkennt. Er sehnt sich nach mehr als Sex, er sucht vor allem die Gemeinschaft, eine menschliche Verbindung oder eine körperliche Berührung. Dies wird besonders deutlich gegen Ende des Films, als Joseph als Täter entlarvt wird. Er bricht in Tränen aus, und zum ersten Mal innerhalb der Erzählung bekommt diese Figur menschliche Züge. Der Protagonist nutzt diese Lage aus um körperliche Nähe zu verspüren, er küsst Joseph auf den Mund. Ähnlich nähert er sich auch einem gefesselten algerischen Dealer zu einem früheren Zeitpunkt. In einigen Kritiken wurde dies als ein Akt der Vergebung beschrieben, so als würde Pharaon die Schuld der Verbrecher in sich aufsaugen und sie davon befreien. Meinem Erachten nach geht diese Interpretation zu weit, vielmehr sind es die letzten Regungen eines Menschen, der sich innerlich verzehrt nach körperlicher Zuneigung. Pharaon ist „god´s loneliest man“ der Moderne.

Wie groß die Diskrepanz zwischen dem Verlangen Dominos und der Hauptfigur ist wird besonders in einer Szene erkennbar. Als sie ihm ihren Kör-per anbietet, lehnt Pharaon ab. Domino weiß sich nicht anders zu helfen, als ihm auf plumpe Art und Weise ihren Leib als Geschenk zu präsentieren. Er reagiert darauf erschrocken, wünscht sich eher eine langsame und intensive Zusammenkunft. Besonders interessant sind die letzten beiden Einstellungen dieser Sequenz. Wir sehen Pharaon angespannt und heftig atmend in seinem Hausflur stehen. Es folgt eine Nahaufnahme der weinenden Domino und ihrer Vagina. Eine körperliche Annäherung erscheint unmöglich. Beide Charaktere gehen in ihren unterschiedlichen Wünschen vollkommen aneinander vorbei. Domino kann ihm nichts anderes anbieten als ihren Körper und ihr Geschlecht. Pharaon kann auf dieses Geschenk nicht eingehen, zu sehr ist er hin- und hergerissen zwischen dem eigenen körperlichen Verlangen und seiner Sehnsucht nach Zärtlichkeit.

Im gesamten Film gibt es nur eine Person, die das Bedürfnis des Protagonisten spürt und ihn umarmt. Es ist der Pfleger einer Irrenanstalt. Houellebecq beschreibt das Sanatorium als einen Ort, an dem sich Frauen und Männer nur befanden, „weil sie bloß unter einem Mangel an Liebe litten. Ihre Gesten, ihr Verhalten, ihre Mimik zeugten von einem herzzerreißenden Durst
nach körperlicher Berührung und Zärtlichkeit.“ .Dies beschreibt hervorragend den Seelenzustand Pharaons. Doch auch dem Pfleger bleibt nicht mehr übrig, als ihm für einen kurzen Augenblick Beistand zu leisten.

Dumonts Filme sind ebenso unkonventionell wie die Werke Noes. Doch während Noe seine Erzählungen in ein rauschartiges verstörendes Kinoerlebnis verwandelt, kreiert Dumont etwas vollkommen anderes. Auf radikale Weise reduziert er seine Filme auf ein Minimum an technischen Raffinessen. Der Regisseur bricht mit den gängigen Erzählstrategien des modernen Kinos und dehnt die Geschehnisse auf eine unerträgliche Länge aus. Die Montage scheint hier keine wichtige Rolle zu spielen, es gibt sehr wenig Schnitte. Die meisten Sequenzen beginnen mit einer Aufblende und enden mit einer Abblende.

Dadurch entsteht ein Kino der Echtzeit, Filme, die sehr nah sind an der Monotonie und Tristesse des realen Lebens. Umso verstörender wirkt Dumonts Arbeit auf den Zuschauer. Die Reaktionen aus dem Publikum in Cannes waren sehr zwiespältig. Viele warfen dem Film vor, gar nichts zu erzählen. Diese Kritiker haben die Herangehensweise des Regisseurs an das Medium Film nicht verstanden. Es geht nicht darum, eine Geschichte mit möglichst vielen Wendungen innerhalb des Plots zu präsentieren, mit vielen Schnitten, lauter Musik und bekannten Schauspielern das Publikum zu streicheln. Vielmehr ist das Ziel Dumonts, das Kino wieder auf das Wesentliche zu reduzieren, auf den Menschen.

 

IV. Fazit

In Zeiten, in denen das Individuum hochgehalten wird und dabei dennoch dessen Attribute vollkommen zu verschwinden drohen, sind die Filme von Gaspar Noe und Bruno Dumont von höchster Wichtigkeit. Die visuellen Medien suggerieren einen hohen Stellenwert des Menschen in dieser Welt, verstecken ihn aber hinter Fassaden des Scheins und hinter seiner Funktion für die Gesellschaft. Von den Popstars und den psychologischen Betreuern für schwererziehbare Kinder aus dem Fernsehen, bis hin zu den Helden des modernen Mainstreamkinos, sie alle repräsentieren eine Zunft, die zwar nah am realen Menschen sein soll, aber in Wirklichkeit weit von ihm entfernt ist. Der Homo Sapiens ist weit mehr als das, was er kann, oder was er an guten Taten vollbringt. Gerade seine Schwächen, seine Gelüste und seine Fehler machen ihn aus. Von einer Betrachtung dieser so menschlichen Eigenschaften sind die heutigen Medien leider weit entfernt.

Arthur Schopenhauer beschreibt diese Form der Verschleierung des Individuums. Der Mensch betrachtet sich nur als eine Erscheinung in Raum und Zeit, als ein Wesen dem das Böse und das Übel in der Welt vollkommen fremd ist. Aufs Schärfste trennt er zwischen sich und den anderen. Dennoch „lebt in der innersten Tiefe seines Bewusstseins die ganz dunkle Ahnung, dass ihm jenes alles doch wohl eigentlich so fremd nicht sei, sondern einen Zusammenhang mit ihm hat“ .

Die Filme der beiden behandelten Filmemacher dringen in diese dunklen Tiefen des Bewusstseins ein. Sie lenken den Blick auf die menschliche Fehlbarkeit und auf eine pseudo-moralische Gesellschaft, die den Begriff der Moral schon lange nicht mehr in ihrem Wortschatz hat. Das Individuum mit all seinem Leid und den Qualen, die es verursacht und durchlebt, bekommt einen hohen Stellenwert in ihren Werken. Ihre Arbeit muss somit als ein Gegenentwurf zur gängigen modernen Verschleierung der menschlichen Natur betrachtet werden.

V. Literaturverzeichnis:

Buttgereit, Jörg: Irreversibel. In: Ikonen: - Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lebensart. Stiglegger Verlag, Wiesbaden.

Houellebecq, Michel: Suche nach Glück – Gedichte. 2000 DuMont Buchverlag Köln.

Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. 1999 Klaus Wagenbach Verlag in Berlin.

Hughes, Darren: Bruno Dumonts´s Bodies. 2002 www.longpauses.com.

Kierkegaard, Sören: Kierkegaard für Gestresste. 2000 Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig.

Schopenhauer, Arthur: Welt und Mensch – Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. 2001 Philipp Reclam jun. Stuttgart.

Seim, Roland; Spiegel, Josef (Hrsg.): Ab 18 – Zensiert, Diskutiert, Unterschlagen: Beispiele aus der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland; Der dritte Grad. 1995 Kulturbüro Münster e.V.

Wrigley, Nick: Polarizing, Magnificent Cinema of Bruno Dumont. 2004 www.
mastersofcinema.org